November 2022

221110

ENERGIE-CHRONIK


Greenpeace wirft TotalEnergies "Greenwashing" bei CO2-Emissionen vor

Greenpeace Frankreich hat dem größten Mineralölkonzern des Landes am 2. November vorgeworfen, dass seine weltweiten Treibhausgas-Emissionen vierfach höher seien als er angegeben hat. Die von TotalEnergies für das Jahr 2019 genannten 455 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent lägen weit unter dem tatsächlichen Ausstoß von ungefähr 1.637.000 Tonnen, die sich bei Nachberechnungen der Umweltschutzorganisation ergeben hätten. Der Konzern reagierte umgehend auf diesen Vorwurf, indem er seinerseits die Korrektheit der Nachberechnungen bestritt. Außerdem kündigte er an, "rechtliche Schritte einzuleiten, um den Schaden zu beheben, der durch die Verbreitung dieser irreführenden Informationen durch Greenpeace entstanden ist".

Der Konzern will sich ein neues Image als "Klimachampion" zulegen

Die 66 Seiten umfassende Greenpeace-Veröffentlichung (PDF) erfolgte drei Tage vor der Eröffnung der 27. Weltklimakonferenz in Ägypten (221114). Zum Hintergrund gehört ferner, dass der Total-Konzern lange Zeit den durch Öl und andere fossile Brennstoffe verursachten Klimawandel geleugnet, ignoriert oder heruntergespielt hat. Erst seit kurzem verfolgt er zumindest in seiner Öffentlichkeitsarbeit einen anderen Kurs, indem er – so Greenpeace – "vom Klimaskeptizismus zum Greenwashing übergegangen ist" und sich "nun als Klimachampion präsentiert, der bis zum Jahr 2050 CO2-neutral sein will". Zu diesem neuen Image gehört die 2021 erfolgte Änderung des Firmennamens in "TotalEnergies", wobei die beiden Versalien als Abkürzung für die "transition énérgetique" verstanden werden sollen, die in Frankreich seit 2015 zum amtlichen Sprachgebrauch gehört und ungefähr dem deutschen Begriff "Energiewende" entspricht (150704).

Den Anstoß zur Nachberechnung gab ein Vergleich mit Zahlen des Shell-Konzerns

Den Anstoß für die Nachberechnung gab, dass Greenpeace bei einer Untersuchung der CO2-Bilanzen der größten europäischen Öl- und Gasunternehmen feststellte, dass der Shell-Konzern bei der Verarbeitung und dem Verkauf von fossilen Brennstoffen im Jahr 2019 eine drei- bis viermal höhere Treibhausgas-Belastung angab, obwohl er den französischen Konzern mengenmäßig nur um den Faktor 1,2 bis 1,6 übertraf. Das nun ermittelte Ergebnis lasse die ohnehin schon unglaubwürdige Klimastrategie von Total noch fragwürdiger werden. Um tatsächlich bis 2050 klimaneutral zu werden, bleibe dem Konzern keine andere Möglichkeit als die drastische Reduzierung seiner Öl- und Gasproduktion. Kein geeignetes Mittel seien dagegen "trügerische Technologien wie die Abscheidung und Speicherung von Kohlenstoff oder Methoden mit marginalen Auswirkungen wie das Pflanzen von Bäumen".

Total erzeugt seine Treibhausgas-Emissionen weit überwiegend außerhalb Frankreichs

Die jeweiligen Angaben zu den weltweiten CO2-Emissionen des französischen Konzerns werden weder von Total noch von Greenpeace weiter spezifiert. Vor allem wüsste man gern, wieviele von den 455 Millionen Tonnen CO2-Äquivalent, die Total für das Jahr 2019 angibt, auf Frankreich entfallen oder in anderen Ländern die CO2-Bilanz trüben. Offenbar sind sie im Rest der Welt weit größer als im Stammland des Unternehmens. Die EU-Statistik beziffert die gesamten französischen Treibhausgas-Emissionen des Jahres 2019 mit 418 Millionen Tonnen. Demnach müssen die durch Total verursachten Treibhausgase weit überwiegend in anderen Ländern entstehen – unter anderem auch in Deutschland, wo Total die Raffinerie im sächsischen Leuna und ein ausgedehntes Tankstellennetz betreibt. Erst recht gälte das für die drei- bis viermal höheren Emissionen, die Greenpeace ermittelt hat. Diese würden sogar den französischen Gesamtausstoß an Treibhausgasen im Jahr 2019 um das Vierfache übertreffen.

Für das Weltklima ist es allerdings ziemlich belanglos, wo die Treibhausgase entstehen. Viel wichtiger ist es, diese Mengen einigermaßen exakt zu bilanzieren, bevor sie in die Atmosphäre gelangen. Da scheint noch einiges im argen zu liegen, wie beispielsweise die Versuche zeigen, die beim Netzbetrieb entstehende Verlustenergie als "indirekte CO2-Emissionen" einzustufen (siehe Hintergrund).

 

Links (intern)

Link (extern, ohne Gewähr):

 

Hintergrund

Die "Verlustenergie" erzeugt kein Treibhausgas

Ihre Einstufung unter "indirekte CO2-Emissionen" verfälscht nur die Gesamtbilanz und belastet die Netzentgelte zusätzlich

(siehe oben sowie 210710, 211212 und 220913)


Greenpeace stützte sich bei seiner Nachberechnung der von Total angegebenen Treibhausgas-Emissionen wie der Mineralölkonzern auf das sogenannte Greenhouse Gas Protocol (GGP). Dabei handelt es sich um ein privates Regelwerk, das von der Industrie zur Bilanzierung von Treibhausgas-Emissionen entwickelt wurde. Neben den direkten CO2-Emissionen, die ein Unternehmen durch die Nutzung fossiler Energien selbst verursacht (Scope 1), werden auch "indirekte Emissionen" berücksichtigt, die mit dem Bezug von Strom und Wärme verbunden sein können (Scope 2). Außerdem können wahlweise eine Reihe weiterer "indirekter Emissionen" bilanziert werden, die in- und außerhalb des Unternehmensbereichs durch Einkauf oder Verkauf von fossilen Brennstoffen entstehen (Scope 3).

Die meilenweit auseinanderliegenden Ergebnisse, zu denen TotalEnergies und Greenpeace bei der Anwendung dieses Greenhouse Gas Protocols gelangen, bestätigen den Eindruck, dass es sich um ein stark auslegungsfähiges und teilweise geradezu sophistisch anmutendes Regelwerk handelt. Zum Beispiel kann die "Verlustenergie", die bei der Übertragung und Verteilung des Stroms durch den Netzwiderstand zwangsläufig verloren geht (engl. T&D losses), grundsätzlich als klimaschädliches Treibhausgas bilanziert werden. Um "Doppelzählungen" zu vermeiden, gibt die GGP-Webseite dazu folgende Anleitung:

- For a company that purchases its electricity from a T&D system, but does not own any part of the system, T&D losses should not be included in a Scope 2 inventory. They may be included in a Scope 3 inventory labeled "generation of electricity that is consumed in a T&D system".

- For a company that purchases its electricity and transports it through a T&D system, T&D losses should be included in Scope 2 emissions, since the losses are a portion of direct emissions from the "use" (loss) of purchased electricity.

- For a company that owns the T&D system and also produces the electricity that runs through it, T&D losses should be included in Scope 1 emissions. This is because the emissions are a direct emission resulting from the production of a good.

Es gibt keinen vernünftigen Grund, die Emissionen der Stromerzeugung doppelt zu zählen

Das grundlegende Problem sind freilich nicht die so verhinderten Doppelzählungen (die ohnehin schwerlich überprüfbar wären), sondern eine viel gravierendere Doppelzählung: Diese ergibt sich aus der schlichten Tatsache, dass durch die Netzverluste überhaupt keine Treibhausgase entstehen und zumindest in der EU alle mit der Stromerzeugung verbundenen Emissionen schon im Kraftwerksbereich erfasst werden. Die notwendige Ersatzbeschaffung zum Ausgleich der Verlustenergie ist zwar mit mehr oder weniger großen CO2-Emissionen verbunden. Aber auch diese entstehen nur im Kraftwerksbereich und werden dort bilanziert, indem man – je nach Art der Technik – ein bestimmtes CO2-Äquivalent mit der Anzahl der erzeugten Megawattstunden multipliziert. Diese reale CO2-Belastung der Stromerzeugung wird dann über das Europäische Emissionshandelssystem (ETS) in eine reale Belastung der Strompreise umgesetzt.

Weder für die Netzbetreiber noch für die belieferten Kunden gibt es deshalb einen vernünftigen Grund, die Netzverluste in einen der drei GGP-Scopes einzureihen. Dasselbe gilt für Unternehmen und alle anderen Verbraucher, bei denen der Strom mit den unvermeidlichen Netzverlusten ankommt. Denn sonst müsste man in letzter Konsequenz jede Art des Stromverbrauchs – auch Netzverluste sind nichts anderes als unvermeidbarer Stromverbrauch – mit zusätzlichen CO2-Abgaben pönalisieren.

Netzbetreiber nutzen Ungereimheiten des "Greenhouse Gas Protocol" für PR-Kampagnen zur "Klimaneutralität"

Vor diesem Hintergrund haben es die deutschen Netzbetreiber trotzdem für opportun gehalten, sich ins Büßergewand des reuigen CO2-Sünders zu hüllen: Um in der hochgehenden Klimadiskussion bella figura zu machen, entdeckten sie plötzlich die Verlustenergie als das angeblich größte Treibhausgas-Problem ihrer Branche. Kräftig nachgeholfen haben dabei allerlei Wirtschaftsberater und PR-Strategen, die das Greenhouse Gas Protocol wie eine Bibel rezipieren (die ja auch voller Ungereimtheiten ist), wobei sich ein echtes Problem wie das enorm klimaschädliche Schwefelhexafluorid in den Schaltanlagen der Netzbetreiber ganz nebenbei – um beim Vergleich mit der Bibel zu bleiben – in die Apokryphen verschieben lässt.

Im Unterschied zum Vorwurf, den Greenpeace gegen TotalEnergies erhebt, geht es bei dieser Mogelei nicht darum, die vom Unternehmen verursachen CO2-Emissionen möglichst schönzurechnen. Im Gegenteil: Man will eine möglichst große CO2-Belastung der Branche suggerieren, um sie dann glorios in Richtung "Klimaneutralität" abbauen zu können. Dafür würde langfristig eigentlich schon der ständig steigende Erneuerbaren-Anteil an der Stromerzeugung sorgen. Kurzfristig will man dem schönen Schein aber kräftig nachhelfen, und zwar mit dem Erwerb von sogenannten Herkunftnachweisen für Strom aus erneuerbaren Energien, die auch sonst im Grunde nur der Augenwischerei dienen (siehe Hintergrund, Juli 2021). Kurz gesagt: Einem rein imaginären CO2-Problem soll mit einer rein imaginären Lösung abgeholfen werden. Das ist in sich so stimmig und passt zusammen wie Teufel und Teufelsaustreibung. Keine Fiktion, sondern ganz real sind allerdings die Kosten der Zertifikate, die für den klimapolitischen Exorzismus benötigt werden. Aber das braucht die Netzbetreiber und ihre Berater nicht groß zu kümmern, weil derartige Peanuts über die ohnehin schon immens hohen Netzentgelte auf die Verbraucher abgewälzt werden können (210710).

Die Übertragungsnetzbetreiber scheinen inzwischen doch eingesehen zu haben, dass die Verlustenergie schon deshalb keine direkten CO2-Emissionen zur Folge haben kann, weil dies Naturgesetzen widerspräche, und dass sie auch nicht unter "indirekte CO2-Emissionen" eingestuft werden kann, weil die Emissionen der Ersatzbeschaffung ebenfalls schon bei der Stromerzeugung bilanziert werden. Zumindest die Verteilnetzbetreiber der EnBW ließen sich jedoch nicht davon abhalten, ein auf das Greenhouse Gas Protocol gegründetes Doppelzählungs-Konzept so zu verwirklichen, wie es von der Wirtschaftsberatung KPMG entworfen wurde. Vom Chef des Verbands kommunaler Unternehmen und der grünen Umweltministerin des Landes Baden-Württemberg bekamen sie dafür sogar ein dickes Lob (211212). So konnte die EnBW-Tochter Netze BW dann am 21. Juli stolz verkünden, dass sie "zu den ersten klimaneutralen Verteilnetzbetreibern Deutschlands" gehöre und alle noch verbleibenden Emissionen "durch Kompensationszertifikate nach international anerkanntem Gold-Standard" ausgeglichen würden (220913).