September 2022

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ENERGIE-CHRONIK




Durch den Krieg zerstörte Fensterscheiben an Block 6 des Kernkraftwerks Saporischschja
Foto: IAEA

Russische Einschläge kommen ukrainischen Reaktoren immer näher

In dem seit sieben Monaten andauernden Krieg in der Ukraine häufen sich Situationen, in denen die russischen Angreifer immer weniger Rücksicht auf die umkämpften Kernkraftwerke nehmen und dadurch das Risiko einer nuklearen Katastrophe erhöhen. So schlug in der Nacht zum 19. September auf dem Industriegelände des Kernkraftwerks Süd-Ukraine eine Rakete ein, deren Explosion neben einem tiefen Krater die Abschaltung von drei Hochspannungsleitungen bewirkte und an benachbarten Gebäuden die Fenster splittern ließ. Nach Angaben des KKW-Betreibers Energoatom war der Einschlagsort 300 Meter von den Reaktoren entfernt. Schon im April und Juni war das KKW-Gelände mehrfach von russischen Marschflugkörpern überflogen worden.

Besonders kritisch ist die Lage um das Kernkraftwerk Saporischschja, das 250 Kilometer weiter südlich am rechten Ufer des Dnjepr liegt. Dieses größte Kernkraftwerk der Ukraine wurde Anfang März von russischen Truppen besetzt, wobei in der Nähe eines Reaktors eine Granate einschlug (220306). Das ukrainische Personal muss seitdem nach Anweisungen der Russen arbeiten und wird quasi gefangen gehalten. Am 19. Juli berichtete der Betreiber Energoatom, dass die Besatzer sogar mehrere Mitarbeiter verschleppt hätten. Außerdem würden die Russen die Maschinenhäuser zur Lagerung von Militärausrüstung, Sprengstoff und Waffen verwenden sowie andere Sicherheitsbestimmungen mißachten.

Russen nutzen das besetzte KKW Saporischschja auch für die Kriegsführung


Die IAEA-Experten besichtigen ein durch Beschuss verursachtes Loch im Dach eines Spezialgebäude des KKW Saporischschja, in dem unter anderem frische Brennstäbe und das Lager für feste radioaktive Abfälle untergebracht sind.
Foto: IAEA

Anscheinend nutzten die Russen das Kernkraftwerk oder dessen nähere Umgebung als Schutzschild, um von dort aus über den kilometerbreiten Fluss hinweg das andere Ufer zu beschießen, das von der ukrainischen Armee gehalten wird. Möglicherweise diente dies außerdem dazu, die Ukrainer für Beschädigungen des Kernkraftwerks verantwortlich zu machen, falls sie das Feuer erwidern. Jedenfalls bezichtigten sich die Gegner wechselseitig verschiedener Angriffe bzw. Fehltreffer auf das Kernkraftwerk, die bis Anfang September stattfanden:

IAEA-Generaldirektor fordert Einrichtung einer Schutzzone um das Kernkraftwerk

Nur eine Stunde, nachdem Block 5 wegen Beschusses erneut abgeschaltet wurde, erreichte am 1. September eine 14-köpfige Experten-Delegation der Internationalen Atomenergieorganisation IAEA das Kernkraftwerk Saporischschja, um sich ein eigenes Bild von der bedrohlichen Lage zu machen. Zuvor gab es einen Streit zwischen Kiew und Moskau, ob die Delegation über ukrainisches oder russisch besetztes Gebiet anreisen dürfe. Er endete damit, dass die Delegation über Kiew in das russische kontrollierte Gebiet reiste und bei Überquerung der Frontlinie riskierte, selber unter Beschuss zu geraten. Die Delegation reiste in der folgenden Woche wieder ab, mit Ausnahme von zwei IAEA-Mitarbeitern, die das Geschehen dauerhaft vor Ort verfolgen sollen. Anschließend veröffentlichte die IAEO einen zweiten zusammenfassenden Bericht zum Stand der nuklearen Sicherheit in der Ukraine (PDF).


Vor der Weiterfahrt zum KKW Saporischschja traf IAEA-Generaldirektor Grossi in Kiew den ukrainischen Präsidenten Zelensky.
Foto: IAEA

Am 17. September veröffentlichte IAEA-Generaldirektor Rafael Mariano Grossi eine persönliche Erklärung und machte dabei auf die bedrückenden Umstände aufmerksam, unter denen die Beschäftigten des Kernkraftwerks Saporischschja und ihre Familien in der benachbarten Stadt Enerhodar seit der russischen Besetzung des Gebiets leben müssen: In Enerhodar gebe es weder Strom noch fließendes Wasser oder Abwasserentsorgung. Angesichts des zunehmenden und anhaltenden Beschusses sei es unwahrscheinlich, dass eine zuverlässige Stromversorgung des KKW wiederhergestellt werden könne. Die IAEO gehe davon aus, dass der Betreiber Energoatom die Abschaltung des einzigen noch in Betrieb befindlichen Reaktors erwäge, weil er kein Vertrauen mehr in die Wiederherstellung der externen Stromversorgung habe. Dann wäre das gesamte Kraftwerk vollständig von Diesel-Notstromaggregaten abhängig, um lebenswichtige Funktionen der nuklearen Sicherheit und Sicherung zu gewährleisten. Infolgedessen wäre der Betreiber nicht in der Lage, die Reaktoren wieder in Betrieb zu nehmen, wenn die externe Stromversorgung nicht zuverlässig wiederhergestellt ist. Aufgrund der erbärmlichen Umstände, unter denen die Menschen in Enerhodar leben müssen, bestehe außerdem ein erhebliches Risiko, dass die Sicherheit des KKW-Betriebs wegen mangelnder Verfügbarkeit der KKW-Mitarbeiter nicht mehr gewährleistet ist.

"Dies ist eine unhaltbare Situation, die immer prekärer wird", erklärte der IAEO-Generaldirektor. "Enerhodar ist ausgefallen. Das Kraftwerk hat keine externe Stromversorgung. Und wir haben gesehen, dass die Infrastruktur, sobald sie repariert ist, erneut beschädigt wird. Das ist völlig inakzeptabel. Das kann so nicht weitergehen. Ich fordere daher dringend die sofortige Einstellung des Beschusses im gesamten Gebiet. Nur so kann die Sicherheit des Betriebspersonals gewährleistet und die Stromversorgung von Enerhodar und des Kraftwerks dauerhaft wiederhergestellt werden. Diese dramatische Entwicklung zeigt, dass die Einrichtung einer Schutzzone für nukleare Sicherheit und Gefahrenabwehr jetzt unbedingt erforderlich ist. Nur so können wir sicherstellen, dass es nicht zu einem nuklearen Unfall kommt."

Ukraine dringt auf weitere Erhöhung des Stromhandels mit ENTSO-E

Ungeachtet der prekären Situation will der ukrainische Netzbetreiber Ukrenergo die seit Mitte März bestehende Synchronisation mit dem Verbundnetz der ENTSO-E (220307) verstärkt für den Stromexport nutzen. Wie die ENTSO-E mitteilte, begann der kommerzielle Stromhandel mit dem ukrainisch-moldawischen Stromnetz am 30. Juni über die Verbindungsleitung zwischen der Ukraine und Rumänien, gefolgt von der Verbindungsleitung zwischen der Ukraine und der Slowakei am 7. Juli. Der Stromhandel über die anderen Verbindungsleitungen (Ukraine-Ungarn und Moldawien-Rumänien) soll später folgen. Am 28. Juli einigten sich die kontinentaleuropäischen Übertragungsnetzbetreiber darauf, die Handelskapazität mit der Ukraine/Moldawien von 100 auf 250 MW zu erhöhen. Einen Monat später kam es zusätzlich zu der Vereinbarung, diese Handelskapazität ab 5. September tagsüber auf 300 MW zu erhöhen und nachts bei 250 MW zu belassen. Außerdem will man die Möglichkeit einer weiteren Erhöhung "auf der Grundlage von Überlegungen zur Stabilität und Sicherheit des Stromsystems prüfen".

Von den 15 Reaktoren ist nur die Hälfte in Betrieb

Die Ukraine betreibt an den vier Standorten Saporischschja (Saporoshje), Mykolajiw, Riwne (Rowno) und Chmelnyzky (Khmelnitsky) insgesamt 15 Reaktoren mit einer Gesamtleistung von 13 Gigawatt. Es handelt sich durchweg um Druckwasserreaktoren, die – mit Ausnahme von zwei älteren Blöcken – jeweils eine elektrische Nettoleistung von 950 MW erbringen. Das Kernkraftwerk Saporischschja (Saporoshje) im Süden des Landes ist dabei mit sechs Reaktoren und 5700 MW sowohl das größte Kernkraftwerk der Ukraine als auch in Europa, gefolgt von Mykolajiw ("Süd-Ukraine") mit 2850 MW, Riwne (Rowno) mit 2657 MW und Chmelnyzky (Khmelnitsky) mit 1906 MW. Ein großes nukleares Sicherheitsrisiko sind außerdem weiterhin die sechs stillgelegten bzw. zerstörten RBMK-Reaktoren des ehemaligen Kernkraftwerks Tschernobyl, auf dessen Gelände sich am 26. April 1986 mit der Explosion des Blocks 4 die weltweit bisher größte KKW-Katastrophe ereignete.

Wie die Internationale Atomenergieorganisation IAEA am 12. Juni mitteilte, befanden sich von den 15 Reaktorblöcken nur acht in Betrieb: zwei am Standort Saporischschja, drei in Riwne, zwei in Mykolajiw und eines in Chmelnyzky. Im Mai waren sogar nur sieben in Betrieb. Die anderen Reaktoren seien für Wartungsarbeiten abgeschaltet oder in Reserve, hieß es.

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