März 2022

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ENERGIE-CHRONIK


Zitterpartie um ukrainische Kernkraftwerke

Der russische Angriff auf die Ukraine löste nebenbei auch deshalb große Besorgnis aus, weil das Land über 15 Reaktoren mit einer Gesamtleistung von 13 Gigawatt verfügt, die auf vier Standorte verteilt sind und die Hälfte des Strombedarfs decken. Das Kernkraftwerk Saporischschja im Süden des Landes ist mit sechs Reaktoren sowohl das größte Kernkraftwerk der Ukraine als auch in Europa. Die übrigen neun Reaktoren befinden sich an den Standorten Mykolajiw, Riwne und Chmelnyzky. Ein versehentlicher oder gar absichtlicher Beschuss dieser Anlagen hätte erneut eine Katastrophe mit weltweiten Folgen auslösen können, wie das 1986 in Tschernobyl der Fall war. Und auch von Tschernobyl drohte neue Gefahr, falls dort die Schutzhülle um den Katastrophen-Block 4 oder die Brennelemente aus den stillgelegten Reaktoren durch Kampfhandlungen beschädigt worden wären.

Schon am ersten Tag der Invasion besetzten die Russen Tschernobyl

Gleich zu Beginn ihrer Invasion am 24. Februar besetzten die russischen Truppen die Atomruinen in Tschernobyl, die nur ein paar Kilometer von der belorussischen Grenze entfernt sind. Allerdings wurde bei den Kämpfen eine Stromleitung beschädigt. Dies führte zeitweilig zu der Befürchtung, dass eine Kühlung der Lagerbecken mit rund 20.000 abgebrannten Brennelementen aus den drei stillgelegten Blöcken nicht mehr dauerhaft gewährleistet sein könnte. Die Internationale Atomenergiebehörde IAEO gab später in diesem Punkt Entwarnung, weil durch die jahrzehntelange Lagerung die Wärmeentwicklung der Brennelemente soweit abgeklungen sei, dass zur Kühlung kein Strom mehr notwendig sei. Als Sicherheitsrisiko beanstandete die IAEO jedoch wiederholt, dass die Besatzer das übermüdete KKW-Personal praktisch am Arbeitsplatz gefangen hielten und ihm keinen Schichtwechsel mehr ermöglichten.

Die in Wien ansässige Atomenergiebehörde verfolgte das Kriegsgeschehen auch sonst mit großer Besorgnis. Fast täglich veröffentlichte sie Situationsberichte und Stellungnahmen. Zugleich bot ihr Generaldirektor Rafael Mariano Grossi technische Hilfe für den sicheren Betrieb der gefährdeten Nuklearanlagen an und forderte die Schaffung eines vertraglichen Rahmens, der ihr das ermöglichen würde.

Granate schlug in der Nähe eines Saporischschja-Reaktors ein und setzte Gebäude in Brand

Am 1. März ließ das russische Militär die IEAO wissen, das es das Gebiet um das Kernkraftwerk Saporischschja unter seine Kontrolle gebracht habe. Am 4. März erfuhr die IAEO von der Ukraine, dass die Russen in der vergangenen Nacht nun auch das Gelände des Kernkraftwerks besetzt hatten. Aufnahmen von Sicherheitskameras auf dem KKW-Gelände zeigen, dass dabei immer wieder Geschosse abgefeuert wurden. Der genaue Verlauf der nächtlichen Kämpfe lässt sich mangels unparteiischer Beobachter nicht rekonstruieren. Sicher ist aber, dass nicht weit von einem der Reaktoren ein Geschoß einschlug und ein Schulungsgebäude in Brand setzte. Wie in Tschernobyl musste nun auch in Saporischschja das Personal des Kernkraftwerks den Anweisungen der Besatzer Folge leisten, was die IAEO erneut als Sicherheitsrisiko kritisierte.

In Tschernobyl wurde trotz hoher Radioaktivität auch nach der Katastrophe noch 14 Jahre lang Strom erzeugt

In Tschernobyl, wo sich am 26. April 1986 mit der Explosion des Blocks 4 die weltweit bisher größte Katastrophe durch ein Kernkraftwerk ereignete, hatte die Sowjetunion die drei anderen Blöcke ungeachtet der hohen Strahlenbelastung am Netz belassen und zwei im Bau befindliche weitere Reaktoren zunächst sogar vollenden wollen. Erst 1991 wurde der Reaktor 2 nach einer Wasserstoffexplosion nicht mehr repariert, sondern blieb abgeschaltet. Auf westliches Drängen hat dann die inzwischen unabhängig gewordene Ukraine im Frühjahr 1992 auch die Blöcke 3 und 1 abgeschaltet, ein paar Monate später aber trotz aller Proteste erneut in Betrieb genommen (921010, 931016). Es dauerte bis November 1996, ehe auch Block 1 stillgelegt wurde (961216). Vier Jahre später folgte der Block 3 (001215). Die hochradioaktive Ruine des Blocks 4 bekam 2019 eine neue Schutzumhüllung, die 30.000 Tonnen schwer ist und wie die alte Umhüllung als "Sarkophag" bezeichnet wird (960917).

 

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