August 2019

Hintergrund

ENERGIE-CHRONIK



Auf dieser UCTE-Grafik sind die "deterministischen Frequenzabweichungen" gut zu erkennen, die der Stromhandel vor allem morgens und abends jeweils zum Stundenwechsel bewirkt. Ebenso ihre Zunahme im untersuchten Zeitabschnitt von 2002 bis 2008. Da es sich um Durchschnittswerte handelt, beträgt die maximale Abweichung von der Norm lediglich etwa 60 Millihertz. Im Einzelfall kann sie aber auch schnell die Abschaltgrenze von 200 Millihertz erreichen und überschreiten (siehe Grafik 2).

"Deterministische Frequenzabweichungen" nehmen an Häufigkeit und Umfang zu

(zu 190801)

Der jüngste Stromausfall in Großbritannien erinnert an eine ähnliche Situation, die am 10. Januar dieses Jahres im kontinentaleuropäischen Verbundsystem auftrat: Damals sackte die Netzfrequenz bis zur Abschaltgrenze ab und hätte diese durchbrochen, wenn der französische Netzbetreiber RTE nicht sofort den Lastabwurf von 1500 MW eingeleitet hätte. Allerdings erfolgten diese Abschaltungen auf einer vorab vereinbarten vertraglichen Basis mit dafür geeigneten Großverbrauchern. Es handelte sich deshalb nicht um einen rabiaten Lastabwurf wie beim jetzigen Vorgehen von National Grid, sondern um die Aktivierung von außergewöhnlichen Reserven für die Primärregelung (190214).

Außerdem kam der Absturz der Netzfrequenz auf unterschiedliche Weise zustande: In Großbritannien war es der gleichzeitige Ausfall von zwei Kraftwerken, der eine zu schwach dimensionierte Primärregelung überforderte. Die Netzexperten nennen so etwas eine "stochastische" Störung, weil sie unvorhersehbar bzw. zufällig auftritt. Im kontinentaleuropäischen Netz gab es jedoch nirgendwo einen Kraftwerksausfall. Es blieb deshalb vorerst unklar, wie es zu dem plötzlichen Defizit an Strom und dem daraus resultierenden Absturz der Netzfrequenz bis auf 49,800 Hertz kommen konnte. Es gab allerdings schon Vermutungen, dass der Fehler mit dem stündlichen Wechsel der "Fahrpläne" zu tun haben könnte, womit er nicht mehr stochastischer Natur wäre, sondern im System des liberalisierten Strommarktes selber läge.

Inzwischen ist eine "Task Force" der ENTSO-E dieser Frage nachgegangen und hat die Ergebnisse in einem 44-seitigen Bericht zusammengetragen (siehe PDF). "Es scheint, dass der Rückgang durch die Überlagerung von zwei Elementen verursacht wurde", hieß es dazu in einer Pressemitteilung der europäischen Netzbetreiber vom 28. Mai. Auf der einen Seite habe "eine große deterministische Frequenzabweichung" bestanden. Auf der anderen Seite habe es zwischen dem 9. und 11. Januar eine weitere Frequenzabweichung gegeben,die durch eine "eingefrorene Messung auf vier Verbindungsleitungen zwischen Deutschland und Österreich" verursacht wurde. Aus dem Bericht ergebe sich die Notwendigkeit, "Lösungen für deterministische Abweichungen in Kontinentaleuropa zu finden". Diese "deterministischen Frequenzabweichungen" seien seit Jahren zu beobachten. Sie träten immer häufiger auf und würden einen immer größeren Umfang annehmen.

Frequenzabsturz am 10. Januar wurde durch Stromhandel verursacht


Genau um 21 Uhr MEZ (auf dieser Grafik 20 Uhr UTC) sank am 10. Januar die kontinentaleuropäische Netzfrequenz bis zur Abschaltgrenze und hätte diese durchbrochen, wenn der französische Netzbetreiber RTE nicht sofort einen Lastabwurf von 1500 MW verfügt hätte.
Quelle: www.netzfrequenzmessung.de

Das klingt alles sehr kompliziert. Es läuft aber im wesentlichen auf die nicht ganz neue Erkenntnis hinaus, dass der Stromhandel und andere Begleitererscheinungen des neoliberalisierten Energiemarktes nur schwer mit den technischen Erfordernissen einer sicheren Stromversorgung zu vereinbaren sind. Wenn es um heikle politische Punkte geht, sind Verlautbarungen der ENTSO-E allerdings stets in einer diplomatisch-verunklarenden Sprache abgefasst. So auch hier: Der Pferdefuß verbirgt sich hinter dem Begriff "deterministische Frequenzabweichung". Die ENTSO-E umschreibt damit marktbedingte Frequenzabweichungen, die "zur gleichen Zeit und auf die gleiche Weise auftreten" und "in allen synchronen Bereichen mit einem funktionierenden Energiemarkt" zu beobachten seien. Dieses Phänomen habe damit zu tun, dass das Verhalten von Erzeugungs- oder großen Verbrauchseinheiten den Marktregeln folge und nicht den physikalischen Bedingungen des Systems in Echtzeit. Die Erzeugung ändere sich schrittweise, während die Entwicklung der Nachfrage linearer verlaufe. Dadurch entstehe "ein Ungleichgewicht zwischen Erzeugung und Nachfrage in kurzen Zeiträumen rund um den Stundenwechsel", das sich vor allem morgens und abends sowie saisonal im Winter auswirke.

Im Klartext heißt das: Es war kein Zufall, dass die kontinentaleuropäische Netzfrequenz am 10. Januar 2019 genau um 21 Uhr absackte. Die Ursache war auch nicht der Ausfall von Kraftwerkskapazitäten oder ein Mangel an Reserven für die Primärregelung. Vielmehr hat eine "deterministische Frequenzabweichung" infolge des Wechsels der "Fahrpläne" zur vollen Stunde das Reaktionsvermögen der Primärregelung überfordert. Letztendlich war also der Stromhandel die Ursache. Die "eingefrorene Messung" hat diesen Effekt zwar verstärkt, war aber von untergeordneter Bedeutung. Vermutlich hätte ein gleichzeitiger Kraftwerksausfall im Zusammenwirken mit der "deterministischen Frequenzabweichung" die Primärregelung noch mehr überfordert.

Die herkömmliche Primärregelung braucht 30 Sekunden, bis sie voll greift

Die Primärregelung des kontinentaleuropäischen Verbundsystems wurde eben nicht für den Stromhandel, sondern für eine sichere Stromversorgung konzipiert. Sie stützt sich im wesentlichen noch immer auf die "rotierende Masse" der Generatoren, die Diskrepanzen zwischen Erzeugung und Verbrauch durch eine Erhöhung oder Minderung ihrer Drehzahl ausgleichen, bis die Netzfrequenz von 50 Hertz wieder erreicht ist oder zumindest im Bereich eines "Totbands" zwischen 49,99 und 50,01 Hertz liegt. Die in der rotierenden Masse gepeicherte kinetische Energie läßt sich aber nicht blitzartig erhöhen oder mindern. Die Kraftwerke haben deshalb bis zu dreißig Sekunden Zeit, um einer Änderung des Leistungsreglers in vollem Umfang zu folgen, indem sie die Stromabgabe ins Netz um zwei Prozent ihrer Nennwirkleistung erhöhen oder verringern. Dreißig Sekunden sind aber in elektrischen Systemen, in denen alle Vorgänge mit Lichtgeschwindigkeit ablaufen, eine sehr langer Zeitraum, in dem viel passieren kann. Zum Beispiel kann die Netzfrequenz so schnell und tief absinken, dass sie die Abschaltgrenze erreicht und unterschreitet, bevor die Primärregelung voll greift.

Bisher hat sich das europäische Verbundsystem trotzdem als recht zuverlässig und robust erwiesen, wenn es darum ging, starke Verbrauchsschwankungen oder den ungeplanten Ausfall von Kraftwerken auszugleichen. Denn das, was die ENTSO-E jetzt als "deterministische Frequenzabweichungen" bezeichnet, spielte bis zur Liberalisierung des Strommarktes keine Rolle. Es gab sogar nicht einmal den Begriff. Selbst gravierende Schwankungen auf der Angebots- oder Nachfrageseite verliefen so "linear", dass der Ausgleich im erwähnten Zeitraum von dreißig Sekunden kein Problem war.

Priorisierung des Stromhandels kostet die Verbraucher schon jetzt Milliarden

Das hat sich aber inzwischen durch die Liberalisierung des Strommarktes geändert: Mit kräftiger Unterstützung durch die Politiker in Brüssel und Berlin erlangte der Stromhandel eine Priorität, die sich mit den beschränkten Übertragungsmöglichkeiten des Netzes nicht verträgt und grundlegende physikalische Zusammenhänge ignoriert. Sehr deutlich wurde dies durch die Ringflüsse, über die sich Nachbarländer des Stromexporteurs Deutschland so lange beschwerten, bis sogar die EU-Regulierungbehörde die Auflösung der deutsch-österreichischen Stromhandelszone verlangte (150907, 181003). Weitgehend auf den Stromhandel zurückzuführen sind auch die Milliardenkosten, die den deutschen Stromverbrauchern zur provisorischen Überbrückung von Netzengpässen per "Redispatch" (181202) oder für die "Netzreserve" (190509) aufgebürdet werden.

Und nun stellt sich auch noch heraus, dass der Stromhandel das alte und bewährte System der Primärregelung immer mehr zu untergraben droht. Das war absehbar, denn in Fachkreisen wird diese Gefahr schon seit ungefähr zehn Jahren diskutiert. Im August 2008 veröffentlichte die UCTE-Expertengruppe "Frequency Quality Investigation" erstmals einen Bericht zu diesem Problem (siehe Grafik 1). Sie warnte davor, dass die stromhandelsbedingten Frequenzabweichungen einen erheblichen Teil der Primärreserve beanspruchen, die eigentlich für große Erzeugungs- oder Lastausfälle vorgesehen ist. Ihre weitere Zunahme könne die verfügbaren Primärreserven sogar vollständig beanspruchen. Wenn dann auch noch Störfälle hinzukämen, sei die Primärregelung überfordert und nicht mehr in der Lage, ihre eigentliche Aufgabe zu erfüllen (siehe PDF).

In ihrem jetzt vorgelegten Bericht vermeidet es die ENTSO-E, die Zusammenhänge so offen darzulegen. Sie beschreibt die "deterministischen Frequenzabweichungen" als typische Begleiterscheinung eines "funktionierenden Energiemarkts". Das klingt fast schon wie ein Qualitätsmerkmal. Oder zumindest wie die konsequente Weigerung, sich näher mit der Ursache zu befassen und diese als Quelle des Übels zu problematisieren. Sogar ein Wort wie Stromhandel wird man in dem Bericht vergebens suchen. Aber nichts anderes ist gemeint, wenn da immer wieder von "Deterministic Frequency Deviation" bzw. DFD die Rede ist. Die ENTSO-E beschreibt sozusagen das Symptom, ohne näher auf die Ursache einzugehen.

Empfehlungen der ENTSO-E würden Umstellung der Primärregelung auf Batteriespeicher erfordern

Die Empfehlungen der ENTSO-E zur Eindämmung der Symptomatik rühren deshalb auch gar nicht erst an die Ursachen. Sie beschränken sich vielmehr darauf, die Anforderungen an die Primärregelung höher zu schrauben: Die durch DFD verursachten Frequenzabweichungen sollen nie größer werden als 75 Millihertz. Außerdem sollen sie nicht länger als 5 Minuten außerhalb des Bereichs von plus/minus 50 Millihertz liegen.

Bisher bewegt sich die Primärregelung im Arbeitsbereich von plus/minus 200 Millihertz. Wegen des erwähnten Trägheitsmoments der rotierenden Massen ist diese Bandbreite auch erforderlich. Der Leistungsregler am Generator wird aber sicher nicht unterscheiden können, ob er es mit einer DFD oder einer herkömmlichen Frequenzabweichung zu tun hat. Deshalb laufen die Empfehlungen der Kommission darauf hinaus, die im "Transmission Code" enthaltenen Anforderungen an die Primärregelung generell auf die Kriterien umzustellen, die für den Ausgleich von DFD erforderlich sind.

Technisch ließe sich das mit Batteriespeichern realisieren, die ihre Leistung in Sekundenbruchteilen zur Verfügung stellen können. Solche Speicher gibt es bereits. In Deutschland wurde der erste vor fünf Jahren in Betrieb genommen, um die fluktuierende Erzeugung von Windparks zu glätten (140914). Kurz danach übernahm in Brandenburg eine ähnliche Anlage diese Aufgabe bei der Solarstrom-Einspeisung (150812). Weitere Batteriespeicher zur Primärregelung errichteten die Stadtwerke Chemnitz (170814), der RWE-Konzern (180212) oder die EnBW (180408). In Großbritannien hat der Netzbetreiber National Grid die Primärregelung sogar schon weitgehend auf Batteriespeicher umgestellt (190801). Und in Deutschland stoppte die Bundesnetzagentur soeben die Pläne von TransnetBW, Amprion und TenneT, mit solchen Batteriespeichern eine Abkehr von der "klassischen präventiven Auslegung des (n-1)-Kriteriums" zu ermöglichen (190805).

Das ändert indessen nichts daran, dass die Primärregelung im gesamten kontinentaleuropäischen Verbundsystem noch immer auf der herkömmlichen Technik beruht. Und es wäre überaus teuer, diese durch Batteriespeicher zu ersetzen. Wie der jüngste Stromausfall in Großbritannien zeigt, darf man dabei nicht sparen und auf die zuverlässige Einhaltung der enger geschnürten Frequenzabweichungen vertrauen, sondern muss weiterhin den "worst case" im Auge behalten. Es ist jedenfalls keine akzeptable Lösung, in einem solchen Fall einfach für Millionen Menschen die Stromversorgung zu unterbrechen, wie National Grid das getan hat.

Auch Gesichtspunkte des Umweltschutzes sprechen für die herkömmliche Technik: Schon jetzt droht der Akku-Müll zu einem riesigen Problem zu werden, weil Industrie und Politik einseitig die Batterie als Energiespeicher für Elektrofahrzeuge favorisieren. Die Batteriebranche dürfte das natürlich anders sehen und gerade den stationären Einsatz ausrangierter Auto-Akkus zur Primärregelung als ideale Zweitverwertung empfehlen. Und wenn dann auch noch die Politik an der Priorisierung des Stromhandels festhält, kommt auf die Stromverbraucher eine weitere dicke Rechnung zu.