Juli 2015

Hintergrund

ENERGIE-CHRONIK


Zum Gürtel noch ein Hosenträger – wie sinnvoll ist die "Kapazitätsreserve"?

(zu 150701)

(Nachträglicher Hinweis: Mit dem anfangs noch diffusen Begriff "Kapazitätsreserve" ist hier vor allem die ein Jahr später beschlossene "Sicherheitsbereitschaft" nach § 13g EnWG gemeint und nicht die gleichzeitig eingeführte Reserveleistung nach § 13e EnWG, für die der Begriff dann exklusiv verwendet wurde. Siehe hierzu auch Hintergrund, Februar 2018)

Bei den Verhandlungen im Koalitionsausschuß hat Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) am 1. Juli dem Druck der Braunkohle-Lobby nachgegeben und auf die geplante "Klimaabgabe" für alte Kohlekraftwerke verzichtet. Stattdessen sollen 13 Prozent der installierten Braunkohleleistung schrittweise in eine "Kapazitätsreserve" überführt und nach vier Jahren stillgelegt werden (150701). Überraschend kam diese Entscheidung nicht, nachdem er sie bereits Ende Juni auf dem Jahreskongreß des BDEW angekündigt hatte (150601). Nach wie vor stellt sich aber die Frage, ob damit eine gleichwertige Minderung der Treibhausgas-Emissionen erreicht wird, wie teuer die geplante Maßnahme die Stromverbraucher zu stehen kommt und ob sie überhaupt sinnvoll ist.

In einem regierungsamtlichen Eckpunktepapier vom März dieses Jahres wird die Kapazitätsreserve als eine Art "Hosenträger" beschrieben, der den bereits vorhanden "Gürtel" in Form der Reservekraftwerksverordnung ergänzt (150301). Der Vergleich ist insofern stimmig, als er die Fragwürdigkeit der ganzen Konstruktion auf den Punkt bringt. Denn normalerweise verwendet niemand zusätzlich zum Gürtel einen Hosenträger. Außerdem ist der bereits vorhandene Gürtel sehr reißfest angelegt und wird nur in kritischen Situationen benötigt, die sehr selten auftreten. Im vergangenen Jahr war das am 20. und 22. Dezember der Fall. Im vorvergangenen Winter wurde die Netzreserve sogar kein einziges Mal in Anspruch genommen (150505).

Somit erhebt sich die Frage, ob der zusätzliche Hosenträger nicht eine andere Funktion erfüllt. Wenn er netztechnisch überflüssig ist, kann er eigentlich nur den Interessen der Kohlekraftwerksbetreiber dienen. Für die ist es sicher vorteilhafter, wenn sie ihre alten Anlagen gegen Bezahlung in eine "Kapazitätsreserve" einbringen dürfen, anstatt mit einer Klimaabgabe belegt zu werden, die den Kohlestrom unrentabel macht und deshalb zur Stillegung der emissionsträchtigsten Anlagen nötigt. Nebenbei würde so der Hosenträger auch verhindern, daß der Wirtschaftsminister die Hosen runterlassen und eingestehen muß, was der wirkliche Grund für die netztechnisch begründete Einführung der "Kapazitätsreserve" ist...

Mit der Klimaabgabe wollte Gabriel das Versagen des Emissionshandels kompensieren

In ihrem Koalitionsvertrag vom November 2013 haben Union und SPD vereinbart, die CO2-Emissionen bis 2020 um mindestens vierzig Prozent gegenüber dem Stand von 1990 zu reduzieren (131101). Das ist nur möglich, wenn einige der größten CO2-Emittenten stillgelegt werden. Eigentlich hätte das Europäische Emissionshandelssystem (ETS) dafür sorgen sollen, daß die Kohlekraftwerke mit den höchsten Emissionen an Treibhausgasen unwirtschaftlicher werden und deshalb allmählich vom Netz gehen. In der Praxis hat dieses Instrument aber bisher jämmerlich versagt (140406). Auch die nunmehr geplanten Korrekturen am ETS werden nach neuestem Stand nicht vor 2019 in Kraft treten (150706).

Die von Gabriel zunächst geplante Klimaabgabe sollte einen Ausgleich für das eklatante Versagen des Europäischen Emissionshandelssystems schaffen und so doch noch die Erreichung des gesteckten Klimaziels ermöglichen. Sie hätte nur fossil befeuerte Kraftwerke betroffen, die mit ihren CO2-Emissionen eine bestimmte Obergrenze überschreiten. Bei Überschreitung dieser Grenze hätten die Kraftwerke zusätzliche Emissionsberechtigungen aus dem Europäischen Emissionshandelssystem erwerben müssen, die anschließend stillgelegt worden wären. Die Obergrenze sollte dabei so hoch angesetzt werden, daß 90 Prozent der fossilen Stromerzeugung gar nicht betroffen gewesen wären (150301).

Stillegung der Braunkohle-Kapazitäten bewirkt nicht dieselbe Treibhausgas-Minderung

Die nunmehr vorgesehene Überführung der ältesten Braunkohlekraftwerke in eine "Kapazitätsreserve" bewirkt im Prinzip ebenfalls eine Minderung der Treibhausgas-Emissionen. Sie dürfte allerdings kaum denselben Mengeneffekt wie die Klimaabgabe haben. Nach einem Gutachten, das von der Inititative "Agora Energiewende" in Auftrag gegeben wurde, müßten dazu mindestens vier bis sechs Gigawatt (GW) an Braunkohle-Kapazität abgeschaltet werden (150602). Das Koalitionspapier sieht aber nur "die schrittweise Stilllegung von Braunkohlekraftwerksblöcken in einem Umfang von 2,7 GW" vor. Daß dies nicht ausreichen wird, um den Verzicht auf die Klimaabgabe zu kompensieren, ergibt sich auch aus der Zusage der Braunkohlewirtschaft, "eine gegebenenfalls notwendige zusätzliche Minderung in Höhe von 1,5 Mio. t CO2 pro Jahr ab 2018 zu erbringen". Ob, wann und auf welche Weise diese Zusage eingelöst wird, bleibt indessen ungewiß.

Die Kapazitätsreserve ist deshalb in der vorgesehenen Form im Grunde eine Art Abwrackprämie für alte Braunkohlekraftwerke, die aber netztechnisch begründet wird, um ihrer Finanzierung über die Netzkosten auf die Stromverbraucher abwälzen zu können. Zur Höhe der Kosten macht das jetzt beschlossene Koalitionspapier wohlweislich keine Angaben. Es wird sich aber mit Sicherheit um eine Milliardensumme handeln.

Dabei wäre die weitere Vorhaltung der abgeschalteten Kohlekraftwerke gar nicht erforderlich. Schließlich herrscht in Deutschland kein Mangel, sondern ein wachsender Überschuß an Kraftwerkskapazitäten, der seit zwölf Jahren zu immer neuen Export-Rekorden führt (150602). Natürlich ist es möglich, daß dieser Überschuß irgendwann geringer wird oder sogar ein Mangel an konventioneller Kraftwerkskapazität auftritt. Aber auch dann würde die konsequente Anwendung der Reservekraftwerksverordnung noch immer dafür sorgen, daß das Netz in kritischen Situationen nicht zusammenbricht. Nach § 8 der Verordnung, die seit 2013 in Kraft ist (130605), könnte die Bundesnetzagentur die Übertragungsnetzbetreiber sogar zur Errichtung eigener Kraftwerke ermächtigen, die ausschließlich als "netztechnisches Betriebsmittel" dienen.

Die "Kapazitätsreserve" taucht bereits im Grünbuch auf

Es verhält sich aber sicher nicht so, als ob Gabriel die Mogelpackung Kapazitätsreserve plötzlich neu erfunden hätte, nachdem er mit der Klimaabgabe nicht durchkam. Er fuhr vielmehr von Anfang an zweigleisig. Die Kapazitätsreserve tauchte bereits im "Grünbuch Strommarkt" auf, das er im Herbst 2014 vorlegte. Schon damals schlug Gabriel vor, diese angeblich notwendige Kapazitätsreserve mit Anlagen zu bestücken, die unter dem Druck von verschärften gesetzlichen Auflagen zur CO2-Minderung vom Netz genommen werden (141105). Auch die "Klimaabgabe", die erst im Eckpunktepapier vom März dieses Jahres unter dieser Bezeichnung auftauchte (150301), war insofern bereits in diesem Konzept enthalten.

Kapazitätsreserve und gesetzliche Auflagen zur CO2-Minderung waren also zwei sich ergänzende Vorschläge, um die Abschaltung der ältesten und emissionsträchtigsten Braunkohlekraftwerke zu erreichen. Beides waren mögliche Wege zur Erreichung des Klimaziels, wie es im Koalitionsvertrag formuliert wird, sowie zum Abbau der vorhandenen Überkapazitäten. Vorläufig offen blieb das Mischungsverhältnis zwischen gesetzgeberischem Druck und finanziellen Anreizen. Inzwischen scheint allerdings klar zu sein, daß Gabriel auf den Druck weitgehend verzichten und stattdessen die Kraftwerksbetreiber mit finanziellen Anreizen zur Stillegung von Anlagen bewegen will.

Ursprünglich ging es darum, die Forderung nach einem "Kapazitätsmarkt" abzublocken

Gräbt man noch etwas tiefer in der jüngsten Historie der deutschen Energiepolitik, so wird klar, daß die Kapazitätsreserve ursprünglich erfunden wurde, um der Forderung nach einer Alimentierung von unrentabel gewordenen Kraftwerkskapazitäten zu begegnen. Besonders laut und früh klagten die Betreiber von Gaskraftwerken, denen durch den Verfall der Großhandelspreise die Auslastung ihrer Anlagen verhagelt wurde (111104). Zu den Leidtragenden gehörten insbesondere kommunale Versorger, die sich GuD-Anlagen zugelegt hatten, um Spitzenlaststrom selber zu erzeugen, anstatt ihn teuer an der Börse einzukaufen. Sie fühlten sich zu Recht von der Politik verschaukelt, wenn ihre Kalkulation nun nicht mehr aufging, denn der seit 2009 andauernde Preisverfall an der Börse war das Ergebnis einer politischen Entscheidung: Man hatte kurzerhand die bisherige EEG-Ausgleichsregelung abgeschafft, die den ins Netz eingespeisten EEG-Strom über die EEG-Quote gleichmäßig auf die Stromversorger und deren Endkunden verteilte. Stattdessen mußten diese Strommengen nun zu jedem Preis über die Börse losgeschlagen werden. Diese erzwungene "Marktintegration" des EEG-Stroms bewirkte eine dauerhafte Talfahrt der Großhandelspreise, von der aber die Stromverbraucher keineswegs profitierten, sondern sogar wesentlich stärker als bisher belastet wurden (120204, 120806).

Bald riefen alle Betreiber von konventionellen Kraftwerken und der Branchenverband BDEW nach einem "neuen Strommarktdesign" und der Einführung eines zusätzlichen "Kapazitätsmarktes", der schon die bloße Vorhaltung von Kraftwerkskapazitäten honorieren sollte (130702, 130406). Im Mai 2013 richteten die Vorstandsvorsitzenden von acht europäischen Energiekonzernen – darunter die Chefs von E.ON und RWE – einen entsprechenden Appell an den Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs (130506).

In Deutschland will die Politik keinen neuen subventionierten Marktbereich

Die Regierung der schwarz-gelben Koalition war zunächst durchaus geneigt, auf diese Forderungen einzugehen, obwohl damit zusätzlich zur EEG-Förderung ein weiterer subventionierter Marktbereich geschaffen worden wäre. Die Kanzlerin hielt den "Kapazitätsmarkt" nicht für einen Holzweg, sondern für eine passable Lösung, um "den Ausbau der erneuerbaren Energien mit der Notwendigkeit von grundlastfähigen Kraftwerken, die auch gebaut werden müssen, zu harmonisieren" (120502). In anderen EU-Staaten drängten die Kraftwerksbetreiber ebenfalls auf solche Kapazitätsmärkte. Im Juli 2014 genehmigt die EU-Kommission den ersten Kapazitätsmarkt in Großbritannien (140708). In Frankreich soll 2017 eine ähnliche Regelung wirksam werden.

Dagegen sahen Union und SPD in ihrem Koalitionsvertrag vom November 2013 keine Dringlichkeit zur Einführung eines Kapazitätsmarktes: "Derzeit verfügen wir deutschlandweit über ausreichend Kraftwerke", hieß es. Allenfalls mittelfristig sei im Einklang mit europäischen Regelungen ein "Kapazitätsmechanismus" zu entwickeln, der Kosteneffizienz mit Wettbewerb und Technologieoffenheit verbindet. Im Klartext hieß das: In der laufenden Legislaturperiode wird es zu keinem Kapazitätsmarkt kommen. (131101)

Das Bundeskartellamt warnte sogar ausdrücklich vor der Einführung eines Kapazitätsmarktes, weil die Situation in Deutschland von erheblichen Überkapazitäten gekennzeichnet sei. Das daraus resultierende Rentabilitätsproblem der Kraftwerksbetreiber dürfe nicht einfach mit dem Problem der Versorgungssicherheit vermengt werden. Andernfalls bestehe ein großes Risiko, daß es zu Fehlsteuerungen, Fehlanreizen und unnötigen Kosten komme. Notfalls stehe mit der Reservekraftwerksverordnung ein Instrument zur Verfügung, mit dem sich vergleichsweise flexibel und günstig verhindern lasse, daß auch netzstrategisch wichtige Kraftwerksreserven aus rein kommerziellen Überlegungen stillgelegt werden. (140611)

Die vom Bundeswirtschaftsministerium beauftragten Gutachter rieten ebenfalls ab. Solche "Kapazitätsmechanismen", wie sie die Kraftwerksbetreiber und deren Lobby fordern, seien zur Aufrechterhaltung der Versorgungssicherheit nicht notwendig, würden aber die Kosten der Stromversorgung erheblich erhöhen. Außerdem wären sie mit einem großen Regulierungsaufwand und erheblichen regulatorischen Risiken verbunden. (140803)

Aus der "Kraftwerksreserve" des Gutachter-Vorschlags wurde im Grünbuch die "Kapazitätsreserve"

Die am 31. Juli 2014 veröffentlichte Zusammenfassung der Gutachter-Ergebnisse enthielt dennoch einen bemerkenswerten Vorschlag: Falls man unbedingt eine Erhöhung der Versorgungssicherheit für wünschenswert halte, eigne sich dazu am besten die Einführung einer Kraftwerksreserve. Diese werde außerhalb des Marktes vorgehalten und nur dann eingesetzt, wenn auf dem wettbewerblichen Strommarkt kein Ausgleich von Angebot und Nachfrage möglich ist. Eine solche Erweiterung des bestehenden "Energy-only-Marktes" sei allen derzeit diskutierten Modellen von Kapazitätsmärkten deutlich überlegen. Die Kosten der Vorhaltung und des Einsatzes dieser Reserve seien über eine Umlage zu finanzieren.

Ob die Gutachter diese an sich unnötige Kraftwerksreserve selber erdacht oder auf Anregung des Auftraggebers vorgeschlagen haben, gehört zu den Betriebsgeheimnissen der Politik. Es handelte sich jedenfalls um nichts anderes als die Kapazitätsreserve, von der das Grünbuch spricht, das Gabriel am 31. Oktober 2014 vorlegte. Sie wird dort als "Sicherheitsnetz" bezeichnet, das zusätzlich zu der bereits gesetzlich geregelten Netzreserve aufgespannt werden müsse, wenn es zum Abbau der derzeit bestehenden Überkapazitäten komme. Eine solche Reserve sei sinnvoll, um den bestehenden Strommarkt so zu optimieren, daß auf die Schaffung eines zusätzlichen "Kapazitätsmarktes" verzichtet werden könne. Der solcherart optimierte "Energy-only-Markt", der im Gutachter-Bericht als EOM 2.0 bezeichnet wird, mutierte im Grünbuch zum "Strommarkt 2.0".

Bei der Kapazitätsreserve handelte es sich also primär um ein Instrument zur Abwehr der Forderungen nach einem Kapazitätsmarkt. Unter dem Gesichtspunkt der Versorgungssicherheit war sie eingestandenermaßen so überflüssig wie ein Hosenträger zum Gürtel. Man gab sie aber dennoch als notwendiges "Sicherheitsnetz" aus, damit die Stromverbraucher die daraus resultierenden Mehrbelastungen willig schluckten, denn es kostete in jedem Falle viel Geld, die nach einem Kapazitätsmarkt schreienden Kraftwerksbetreiber so zufriedenzustellen, daß es nicht nur bei einem Trostpflaster blieb.

Gabriel muß jetzt mit dem Vorwurf leben, vor der Lobby eingeknickt zu sein und die Stromverbraucher ohne überzeugende netztechnische Begründung mit der Abwrackprämie für Braunkohlekraftwerke zu belasten. Einen Teilerfolg kann er immerhin verbuchen: Die beabsichtigte Füllung der angekündigten Kraftwerksreserve mit den größten CO2-Emittenten befriedigt nicht nur die Braunkohle-Lobby, die sich die Stillegung mit einer vermutlich siebenstelligen Summe zu Lasten der Stromverbraucher honorieren läßt. Sie freut zugleich die Betreiber von anderen fossil befeuerten Kraftwerken, die sich durch den Wegfall der ärgsten Schmutzkonkurrenz eine bessere Auslastung ihrer eigenen Anlagen erhoffen dürfen.