April 2025 |
250404 |
ENERGIE-CHRONIK |
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Die Kosten der "vermiedenen Netzentgelte" stiegen unentwegt und erreichten 2017 mit 2,526 Milliarden Euro ihren Höhepunkt. Dann wirkten sich die Abstriche durch das "Netzentgeltmodernisierungsgesetz" aus, das zwar die Zahlungen für Neuanlagen ab 2023 beseitigte, für Bestandsanlagen aber auf dem Stand des Jahres 2016 weiterhin gewährte. Deshalb müssten die Stromverbraucher noch viele Jahre lang mit einer jährlichen Belastung von rund eine Milliarde Euro rechnen, falls es nicht zu der von der Bundesnetzagentur geplanten stufenweisen Abschaffung bis 2029 kommt. |
Die Bundesnetzagentur unternimmt einen neuen Vorstoß zur Abschaffung der Prämien, die seit zwanzig Jahren aufgrund von § 18 Abs. 1 der Stromnetzentgeltverordnung die Betreiber kleinerer konventioneller Kraftwerke erhalten, weil deren Anlagen nicht in das Höchstspannungsnetz einspeisen (220 bis 380 Kilovolt), sondern in eines der nachgelagerten Verteilernetze (400 Volt bis 110 Kilovolt). Am 23. April legte sie den Entwurf für eine entsprechende Festlegung vor. Demnach würden diese Zahlungen, die schönfärberisch als Vergütung für angeblich "vermiedene Netzentgelte" begründet werden, ab 1. Januar 2026 jährlich um 25 Prozent abgesenkt werden und ab 2029 ganz entfallen. Bisher machen sie ungefähr drei Prozent der Netzkosten aus und belaufen sich jährlich auf rund eine Milliarde Euro. Die Netznutzer würden so in den Jahren 2026 bis 2028 um ca. 1,5 Milliarden Euro entlastet und danach jedes Jahr um bis zu einer Milliarde Euro.
Die Bundesnetzagentur begründet die Abschaffung dieser unnötigen Belastung der Stromverbraucher folgendermaßen:
"Die Vergütung für dezentrale Erzeugung wurden vor über 25 Jahren in der Annahme eingeführt, lokal erzeugter Strom würde auch lokal verbraucht und somit die Gesamtnetzkosten senken, da die übergeordneten Netze nicht genutzt werden müssten. Diese Annahme stimmt immer weniger. Auch dezentral erzeugter Strom wird zunehmend über längere Strecken in die Verbrauchszentren transportiert. Zusätzlich müssen auch nachgelagerte Netze so ausgebaut sein, dass eine Region aus den vorgelagerten Netzen versorgt werden kann, etwa wenn dezentral angeschlossene Erzeugungsanlagen nicht verfügbar sind."
Diese Argumentation ist im Prinzip richtig. Sie klingt aber fast so, als ob die "vermiedenen Netzentgelte" einst von der Bundesnetzagentur erfunden worden seien und sich die Haltlosigkeit dieser Fiktion erst im Laufe der Zeit herausgestellt habe. Indessen gab es noch nie einen vernünftigen Grund, die Kraftwerksbetreiber extra dafür zu belohnen, daß sie ihre Anlagen in die jeweils geeignete Netzebene einspeisen lassen. Und das ist nun mal für kleinere Erzeugungsanlagen das Verteilernetz.
Es war auch nicht die Bundesnetzagentur, die das Konstrukt der "vermiedenen Netzentgelte" erfunden hat, denn diese Behörde gab es damals noch gar nicht. Vielmehr war das die Branchen-Lobby, der es nach der 1998 dekretierten Liberalisierung des Energiemarktes (980401) weitgehend überlassen worden war, den neuen gesetzlichen Rahmen durch ein selbst geschneidertes Regelwerk von "Verbändevereinbarungen" auszufüllen. Denn in Deutschland wollten die damaligen Bundesregierungen hartnäckig am Sonderweg des "verhandelten Netzzugangs" festhalten und waren sogar stolz darauf, keine Regulierungsbehörde eingeführt zu haben, wie das in allen anderen EU-Staaten bereits geschehen war.
Um die inhaltliche Ausgestaltung dieser insgesamt drei "Verbändevereinbarungen" gab es ein jahrelanges Tauziehen zwischen den unterschiedlichen Interessengruppen der Strombranche. Unter anderem ging es darum, den KWK-Anlagen von Stadtwerken und anderen kleineren Stromversorgern, die infolge der Liberalisierung unwirtschaftlich zu werden drohten, einen Bonus zukommen zu lassen. Dabei traf es sich gut, daß diese unterhalb der Höchstspannungsebene einspeisen. So ließ sich eine an sich nicht begründbare Prämie zu Lasten der Stromverbraucher als netztechnisch notwendige oder zumindest erwünschte Förderung der dezentralen Einspeisung kaschieren.
In der zweiten Verbändevereinbarung vom Dezember 1999 – im Branchenjargon VV II genannt – findet sich deshalb unter Ziffer 2.3.3 erstmals ein besonderes Entgelt für die Stromeinspeisung aus "dezentralen Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen". Ausdrücklich ausgenommen wurden dagegen solche Anlagen, deren Erzeugung durch das damals geltende "Stromeinspeisungsgesetz" gefördert wurde, hauptsächlich also Solar- und Windkraftanlagen.
In der dritten Verbändevereinbarung vom Dezember 2001 – der sogenannten VV II plus – ist diese Regelung unter Punkt 2.3.3 ebenfalls enthalten, wobei erstmals der Begriff "vermiedene Netzentgelte" verwendet wird. Als neues Ausschluß-Kriterium für die Gewährung der Prämie galt nun die Förderung durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG), das mittlerweile das Stromeinspeisungsgesetz abgelöst hatte. Dagegen beschränkte sich nun die Vergütung nicht mehr auf KWK-Anlagen, sondern galt generell für "dezentrale Erzeugungsanlagen", soweit sie keinen EEG-Strom erzeugen.
Als 2005 das Konzept des "verhandelten Netzzugangs" endgültig scheiterte (050701), gelang es der Branchen-Lobby, die bisherige Praxis der Verbändevereinbarungen vielfach unverändert in die neuen gesetzlichen Bestimmungen zu übertragen (071102). So wurden auch die Kalkulationsprinzipien der neuen Stromnetzentgeltverordnung (StromNEV), die nun die Bundesregierung beschloss, weitgehend aus der zuletzt gültigen VV II plus übernommen. Deshalb gelangten mit dem Prozedere zur Ermittlung der Netzentgelte auch die Vergütungen für "vermiedene Netzentgelte" in den § 18 Abs. 1 der Stromnetzentgeltverordnung. Sie wurden damit rechtsverbindlich, während sie bisher nur eine Art Richtschnur darstellten, an die man sich halten konnte oder nicht, denn Rechtsansprüche oder Sanktionsmöglichkeiten bei Nichteinhaltung ergaben sich aus den Verbändevereinbarungen nicht.
Bei dieser rechtlichen Verankerung der Fiktion "vermiedene Netzentgelte" in der Stromnetzentgeltverordnung blieben EEG-Anlagen weiterhin von der Vergütung ausgenommen, obwohl sie einen immer größeren Beitrag zu der angeblich bezweckten Dezentralisierung der Stromeinspeisung leisteten. Um dem Vorwurf einer unzulässigen gesetzlichen Diskriminierung vorzubeugen, wurde deshalb nachträglich der Anschein erweckt, als ob für EEG-Anlagen die vermiedenen Netzentgelte bereits in den Vergütungen für den EEG-Strom enthalten seien: Nach § 57 Abs. 3 des 2014 novellierten Erneuerbare-Energien-Gesetzes hatten nun die Verteilnetzbetreiber auch für EEG-Anlagen die vermiedenen Netzentgelte zu ermitteln und an den jeweils vorgelagerten Übertragungsnetzbetreiber auszuzahlen. In der Praxis ging das so vor sich, daß die Übertragungsnetzbetreiber die errechneten Summen von den EEG-Vergütungen abzogen, die sie den Verteilnetzbetreibern überwiesen. Was vordergründig dem EEG-Konto zufloss, war also in Wirklichkeit eine verkappte Erhöhung der EEG-Umlage, die über die Erhöhung der Netzkosten zustande kam.
Das System der vermiedenen Netzentgelte sei "nicht mehr sachgerecht" und führe sogar zu "einer sich selbst verstärkenden Kostenspirale", konstatierte die Bundesnetzagentur in einem Positionspapier zur Netzentgeltsystematik vom Juni 2015. Es müsse deshalb insgesamt abgeschafft werden:
"Vermiedene Netzentgelte führen zu einer sich selbst verstärkenden Kostenspirale. Durch verstärkte dezentrale Erzeugung wird die bestehende Kapazität des vorgelagerten Netzes in einem geringeren Umfang genutzt. Die weiterhin bestehenden Infrastrukturkosten werden auf eine geringere Absatzmenge verteilt. Dies führt zu einem Anstieg der Netzentgelte auf der vorgelagerten Netzebene. Damit steigen wiederum die vermiedenen Netzentgelte, da diese sich an den Netzentgelten der vorgelagerten Netz- oder Umspannebene bemessen. Die Infrastrukturkosten des vorgelagerten Netzes, die zum großen Teil Fixkosten darstellen, verringern sich jedoch dadurch nicht."
Der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) wollte dagegen nur die Pseudo-Vergütungen für EEG-Anlagen streichen und hoffte wohl, mit diesem Bauernopfer die real ausgezahlten Prämien für seine betroffenen Verbandsmitglieder retten zu können. Die ostdeutschen Bundesländer verlangten sowieso die sofortige Abschaffung dieses besonders unsinnigen Konstrukts, weil es die überdurchschnittlich hohen Netzkosten in ihrem Gebiet noch mehr erhöhte und so die Stromverbraucher belastete (160501).
Der anfängliche Entwurf des "Strommarktgesetzes" (151103) sah zwar die Streichung der Prämien für "vermiedene Netzentgelte" vor, wollte sie aber lediglich für neue Anlagen und erst ab 2021 wirksam werden lassen. Er zielte damit weniger auf die Abschaffung der Regelung als auf deren möglichst lange Aufrechterhaltung. Aber selbst dazu kam es nicht (160604). Ein weiterer Gesetzentwurf sah vor, die Prämien ab 2021 nur für Neuanlagen zu streichen und erst 2030 generell zu beenden (161110). Das Anfang 2017 beschlossene "Netzentgeltmodernisierungsgesetz" beseitigte dann ab 2020 die Pseudo-Vergütungen für EEG-Anlagen sowie die Prämien für Neuanlagen ab 2023, gewährte aber für Bestandsanlagen weiterhin die bisherigen Zahlungen auf dem Stand des Jahres 2016 (170604).
Mit dem Entwurf des Gesetzes zur Einführung einer "Strommarktbremse", das der Bundestag im Dezember 2022 beschloss, sollte dann die absurde Vergütung endlich ganz abgeschafft werden. Dazu kam es aber doch nicht, weil der Ausschuss für Klima und Energie in der Beschlussempfehlung, die er einen Tag vor der Plenarsitzung vorlegte, die Streichung der Streichung empfahl (221208). Die Lobby war also wieder mal erfolgreich am Werk gewesen.
Wird das auch jetzt wieder so sein? – Vermutlich nicht, da der Bundesnetzagentur inzwischen erweiterte Kompetenzen eingeräumt wurden und im Zusammenhang damit die Stromnetzentgeltverordnung zum Jahresende sowieso außer Kraft tritt (231109). Es ist deshalb davon auszugehen oder zumindest zu wünschen, dass der Regulierungsbehörde zehn Jahre nach ihrem ersten Vorstoß endlich die komplette Abschaffung dieser Altlast aus den ersten Jahren nach der Liberalisierung des Strommarkts gelingt.