November 2020

Hintergrund

ENERGIE-CHRONIK


 

Die 2011 in Kraft getretene Aufstockung der Reststrommengen auf 2684 TWh hat deren Abarbeitung nicht beeinträchtigt, da sie nach der Fukushima-Katastrophe zurückgenommen wurde. Die sofortige Stilllegung von acht Kernkraftwerken und die Einführung von zusätzlichen Abschaltterminen verzögerten jedoch ab diesem Zeitpunkt das Tempo des Atomausstiegs erheblich. Andernfalls wäre schon 2018 der letzte Reaktor stillgelegt worden.

Wieviel Pfusch will sich der Gesetzgeber noch leisten?

Eklatante Fehler bei der Novellierung des Atomgesetzes verzögern und verteuern den Ausstieg aus der Kernenergie

(zu 201101)

Eigentlich ist es seit zwei Jahrzehnten geregelt und ganz einfach zu verstehen, wie der deutsche Ausstieg aus der Kernenergie vonstatten gehen soll: Jedes der 19 Kernkraftwerke, die am 1. Januar 2000 in Betrieb waren, bekam eine bestimmte Elektrizitätsmenge zugeteilt, die es ab diesem Datum noch erzeugen durfte. Die kleinste entfiel auf den leistungsschwachen Reaktor Obrigheim aus dem Jahr 1969, der nur 8,7 Terawattstunden (TWh) zugeteilt bekam. Die größte bekam mit 236,04 TWh der fünfmal leistungsstärkere Reaktor Neckarwestheim 2, der 1989 als letztes deutsches Kernkraftwerk ans Netz gegangen war. Außerdem hatte der RWE-Konzern bei den Verhandlungen über den Atomkonsens durchgesetzt, dass ihm 107,25 Terawattstunden für den Reaktor Mülheim-Kärlich zugestanden wurden, obwohl dieser Reaktor nur ein Jahr lang in Betrieb war und wegen diverser Planungsfehler schon 1988 endgültig stillgelegt wurde (030906).

Reststrommengen sind Magna Charta des geordneten Ausstiegs aus der Kernenergie

Insgesamt ergab das eine "Reststrommenge" von 2.623,31 TWh, die in den folgenden Jahren sukzessive abgearbeitet wurde, nachdem die rot-grüne Bundesregierung und die vier Atomkonzerne ihr im Juni 2000 erzieltes Verhandlungsergebnis (000601) nochmals formell besiegelt hatten (010602) und Anfang 2002 eine entsprechende Neufassung des Atomgesetzes in Kraft getreten war (020404). Seitdem ist der erklärte Zweck des Atomgesetzes nicht mehr, die Kernenergie zu fördern, sondern sie "geordnet zu beenden". Und die vor zwanzig Jahren vereinbarten Reststrommengen sind sozusagen die Magna Charta dieses geordneten Ausstiegs aus der Kernenergie.

KKW-Betreiber hielten sich nur pro forma an die Vereinbarungen

Bis Ende 2009 wurde so die vereinbarte Reststrommenge um 60 Prozent verringert. Die Abarbeitung der restlichen 1.0391 TWh wäre wohl spätestens bis 2018 erfolgt. Aber leider waren weder die Atomkonzerne noch Union und FDP gewillt, die mühsam erzielte Einigung zu respektieren. Die vier KKW-Betreiber E.ON, RWE, Vattenfall und EnBW hielten sich zwar formell an die im Juni 2000 vereinbarte Regelung und das darauf basierende Gesetz (041007). Auch die Propaganda-Plattfom der gesamten Kernkraft-Lobby, das "Deutsche Atomforum", verzichtete auf offene Stimmungsmache gegen die vereinbarte Regelung. Inoffiziell gab es aber reichlich Spenden und sonstige Unterstützung für Pro-Kernkraft-Initiativen, die aus dem Dunstkreis der Branche stammten, ohne ihr unmittelbar zugerechnet werden zu können (170804). Der E.ON-Konzern beauftragte sogar heimlich eine auf Politikberatung spezialisierte PR-Agentur mit einem Strategiepapier, das Ratschläge enthielt, wie er die öffentliche Meinung zugunsten der Kernenergie und damit das Ergebnis der bevorstehenden Bundestagswahl beeinflussen könnte (090907).

Union und FDP betrieben von Anfang an die Rückgängigmachung

Union und FDP machten dagegen überhaupt keinen Hehl daraus, dass sie den Atomausstieg sabotieren wollten. Sie hatten das neugefasste Atomgesetz schon bei seiner Verabschiedung im Dezember 2001 entschieden abgelehnt und angekündigt, den damit eingeleiteten Ausstieg im Falle eines Wahlsiegs wieder rückgängig zu machen (011204). Die erste Chance dafür boten die Bundestagswahlen im September 2005. Allerdings ergaben Meinungsumfragen, dass die Mehrheit der Wähler den Atomausstieg durchaus für richtig hielt. Realistischerweise verzichteten die beiden politischen Gehilfen der Atomkonzerne deshalb auf die Forderung, das Verbot des Neubaus von Reaktoren aufzuheben. Stattdessen verlangten sie vorläufig nur, die Laufzeiten aller Kernkraftwerke – deren Anzahl inzwischen durch die Stilllegung von Stade (031107) und Obrigheim (050503) auf 17 geschrumpft war – kräftig zu verlängern (050502).

In der Großen Koalition hatte die Union keine Chance zur Revision

Aber auch so blieb diese Forderung unpopulär genug. Die Bundestagswahl vom September 2005 brachte jedenfalls nicht das erhoffte Ergebnis. Von den sechs im Parlament vertretenen Parteien erzielten lediglich FDP und Linke Zugewinne, während es für Unionsparteien, SPD und Grüne abwärts ging. Die FDP dürfte ihren deutlichen Zuwachs von 7,4 auf 9,8 Prozent tatsächlich der Kernenergie-Kampagne zu verdanken gehabt haben, denn diese Partei gebärdete sich wie keine andere als Prätorianergarde der Atomwirtschaft. Die Stimmenverlagerung kam jedoch größtenteils durch frühere Wähler der Unionsparteien zustande und war insofern für die schwarz-gelbe Koalition ein Nullsummenspiel. Weil das Wahlergebnis weder eine Fortsetzung der rot-grünen Koalition noch deren Ablösung durch eine schwarz-gelbe Koalition ermöglichte, kam es zum ersten Mal seit vierzig Jahren erneut zu einer Großen Koalition aus CDU, CSU und SPD. Die Unionsparteien mussten aber im Koalitionsvertrag von vornherein die Bedingung der SPD akzeptieren, dass es in der neuen Legislaturperiode keine Änderung des Atomgesetzes geben werde (051102).

Vier Kernkraftwerken drohte noch vor den Wahlen das Aus

Dies bedeutete, dass bis zur nächsten Bundestagswahl auch die Kernkraftwerke Biblis A, Neckarwestheim 1, Biblis B und Brunsbüttel endgültig vom Netz gehen würden, sofern ihre Laufzeit nicht durch die Übertragung von Reststrommengen gemäß § 7 des Atomgesetzes verlängert würde (051001). Grundsätzlich ließ das Atomgesetz eine derartige Übertragung nur zu, wenn dadurch die Laufzeit älterer Anlagen verkürzt wurde. Die Übertragung von jüngeren auf ältere Anlagen erforderte dagegen eine ausdrückliche Genehmigung des zuständigen Bundesumweltministeriums. Da die Betreiber der vier genannten Kernkraftwerke über keine älteren Anlagen verfügten, waren sie also auf eine Genehmigung durch den Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) angewiesen, damit die vier Reaktoren so lange am Netz bleiben konnten, bis das rettende Ufer eines politischen Machtwechsels erreicht war.

Allerdings verfügte der RWE-Konzern noch über das Sonderkontingent, das ihm bei den Verhandlungen über den Atomkonsens für den Reaktor Mülheim-Kärlich zugestanden wurde. Laut Atomgesetz durften davon bis zu 21,45 TWh auf Biblis B übertragen werden. Ferner war die Übertragung in unbeschränkter Höhe auf Emsland, Neckarwestheim 2, Isar 2, Brokdorf sowie Gundremmingen B und C erlaubt. Insoweit drohte in Biblis nur dem Block A ernsthaft die Abschaltung, bevor das rettende Ufer eines politischen Machtwechsels erreicht werden konnte. Um auch für Biblis A, Neckarwestheim und Brunsbüttel die Reststrommengen aufstocken zu können, gingen RWE, Vattenfall und EnBW in einer konzertierten Aktion vor: Zunächst stellte RWE beim Bundesumweltministerium den Antrag, die Übertragung von 30 TWh aus der Reststrommenge für Mülheim-Kärlich auf Biblis A zu genehmigen. Weil das laut Atomgesetz ausdrücklich nicht erlaubt war, beantragte RWE zugleich und ersatzweise eine Übertragung vom jüngeren Kernkraftwerk Emsland, dessen Reststrommenge aus dem Kontingent für Mülheim-Kärlich problemlos aufgestockt werden konnte (060901). Ein Vierteljahr später beantragte die EnBW für Neckarwestheim 1 die Übertragung von 46,9 TWh von ihrem jüngeren Reaktor Neckarwestheim 2 (061202). Noch ein Vierteljahr später zog Vattenfall nach und wollte 15 TWh aus dem Kontingent für Mülheim-Kärlich auf Brunsbüttel übertragen lassen (070303).

Mit allerlei Tricks brachten die KKW-Betreiber ihre Reaktoren über die Runden

Umweltminister Sigmar Gabriel (SPD) lehnte erwartungsgemäß alle drei Anträge ab (080401, 080604, 090508). Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte anschließend, dass die geplanten Übertragungen von Mülheim-Kärlich auf Biblis A und Brunsbüttel nach dem Atomgesetz gar nicht zulässig gewesen wären (090313). Trotzdem musste keiner der vier Reaktoren vor den Bundestagswahlen abgeschaltet werden. Es kam nämlich – wie der Zufall es so wollte– plötzlich zu unerwarteten Stillständen: Die beiden Blöcke in Biblis wurden im Oktober 2006 wegen falsch ausgeführter Nachrüstungsmaßnahmen zum Schutz vor Erdbeben abgeschaltet (061006). Der Reaktor B, der noch über ein größeres Reststrom-Polster verfügte, durfte ein paar Wochen später wieder den Betrieb aufnehmen, nachdem die falsch montierten Dübel ausgetauscht waren (071109). Der Reaktor A blieb aber aus demselben Grund ganze 16 Monate abgeschaltet, bevor er Mitte Februar 2008 wieder ans Netz ging (080210). Ähnliches Glück im Unglück hatte Vattenfall, als es im Kernkraftwerk Brunsbüttel in einer Schaltanlage außerhalb des nuklearen Teils zu einem Kurzschluss kam, der die automatische Abschaltung des Reaktors bewirkte (070608). Normalerweise wäre der Reaktor schnell wieder am Netz gewesen. Seltsamerweise dauerte der Stillstand aber nicht nur Tage, sondern viele Monate. Als erfreulicher Nebeneffekt für Vattenfall blieb dadurch die Reststrommenge unverändert bei 10.999,67 GWh, was bei normaler Fahrweise nur noch bis Anfang 2009 gereicht hätte. Der EnBW gelang es plötzlich auch nicht mehr, das Kernkraftwerk Neckarwestheim 1 in der gewohnten Weise zu betreiben. Bis 2006 hatte dieser Reaktor im Jahresdurchschnitt eine jährliche Elektrizitätsmenge von 6.055,5 GWh erzeugt. Nun waren es 2007 nur noch 4.713,53 GWh. Im folgenden Jahr waren es sogar nur noch rund 3.800 Gigawattstunden. Im Juli 2008 verfügte er deshalb noch immer über mehr als 10.0000 GWh, mit denen er gut bis nach den Bundestagswahlen im September 2009 über die Runden kommen konnte. Die EnBW begründete die Drosselung der Stromproduktion mit Wartungsarbeiten und der wirtschaftlichen Optimierung des Kraftwerksparks.

Schwarz-gelbe Koalition spendierte Laufzeitverlängerungen bis zu 14 Jahren

So gelang es RWE, Vattenfall und EnBW, die vier Reaktoren Biblis A und B, Brunsbüttel und Neckarwestheim 1 am Netz zu belassen, obwohl deren Reststrommengen bei normaler Betriebsweise schon 2009 erschöpft gewesen wären. Es dauerte dann auch nicht lange, bis die schwarz-gelbe Koalition ihr Wahlversprechen einlöste und im Rahmen eines "Energiekonzepts", das sie im September 2010 vorlegte (100902), allen 17 Kernkraftwerken eine Laufzeitverlängerung um durchschnittlich zwölf Jahre spendierte (100901). Die Regierung verschwieg zunächst, dass dieser Teil ihres Energiekonzepts das Ergebnis einer Vereinbarung mit den vier Atomkonzernen war. Die Mitverfasser wurden aber zufällig bekannt, weil sich das RWE-Vorstandsmitglied Rolf-Martin Schmitz bei einer Pressekonferenz verplapperte und das gemeinsame Papier erwähnte (100901). Am 28. Oktober 2010 billigte dann auch die Regierungsmehrheit des Bundestags unter heftigem Protest der Oppositionsparteien die Neufassung des Atomgesetzes, welche die Reststrommengen gemäß der Anlage 3 so erhöhte, dass dadurch die Laufzeiten der zehn neueren Reaktoren um 14 Jahre und die der sieben ältesten um jeweils acht Jahre verlängert wurden (101002).



Entgegen landläufiger Ansicht bewirken die Abschalttermine, die der Reststrommengen-Regelung im Jahr 2011 hinzugefügt wurden, keineswegs eine Beschleunigung des Ausstiegs aus der Kernenergie, sondern dessen Verzögerung (Differenz zwischen blauer und roter Linie ab 2016). Die blaue Linie macht deutlich, dass ohne die Abschalttermine alle Reststrommengen schon Mitte 2022 entschädigungslos abgearbeitet wären. Die rote Linie endet dagegen beim letzten Abschalttermin 31. Dezember 2022, wobei eine unverstromte Elektrizitätsmenge von etwa 66000 Gigawattstunden übrig bleibt, die entschädigungspflichtig ist. Ihre gepunktete Fortführung zeigt, dass die drei letzten Reaktoren bei einem Weiterbetrieb noch gut zwei Jahre zur Verstromung der Reststrommengen benötigen würden.


Atompolitische Kehrtwende nach der Katastrophe von Fukushima

Schon zehn Wochen nach Inkrafttreten der Neuregelung (101214) ereignete sich dann aber in Japan die zweite große Kernkraft-Katastrophe nach Tschernobyl (110301): Am 11. März 2011 zerstörten ein Erdbeben und die dadurch ausgelöste Flutwelle vier der sechs Reaktoren des Kernkraftwerks Fukushima. In den folgenden Tagen kam es zu Explosionen und zur Kernschmelze der Brennstäbe. Ähnlich wie 1986 in der Sowjetunion begann damit ein jahrelanges Drama mit der Freisetzung großer Mengen an Radioaktivität und mit tiefgreifenden Auswirkungen auf die Energiepolitik in Deutschland: Die schwarz-gelbe Bundesregierung, die eben erst die Laufzeiten der Kernkraftwerke großzügig verlängert hatte, vollzog nun binnen weniger Wochen eine atompolitische Kehrtwende. Vorab beschloß sie am 14. März – also am dritten Tag nach Beginn der Katastrophe – die vorläufige Abschaltung bzw. Nichtwiederinbetriebnahme der sieben ältesten deutschen Kernkraftwerke. Dieses "Moratorium" war auf drei Monate befristet und mit einer Sicherheitsüberprüfung aller 17 Kernkraftwerke verbunden. Der Beschluß wurde am folgenden Tag mit den CDU-Ministerpräsidenten der betroffenen Länder Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein abgestimmt und bis zum 18. März über entsprechende Anordnungen der atomrechtlichen Landesaufsichtsbehöden umgesetzt.

Theaterdonner mit rechtswidrigen und sachlich unbegründeten Abschaltungen

Letztendlich handelte es sich dabei um Theaterdonner, dessen Rechtswidrigkeit nachträglich über alle Instanzen der Verwaltungsgerichtsbarkeit festgestellt wurde (130214, 140110). Aber auch sachlich gab es keinen vernünftigen Grund, in Deutschland die sieben ältesten Kernkraftwerke schlagartig vom Netz zu nehmen, weil ein Kernkraftwerk am Pazifischen Ozean einem Erdbeben und einer dadurch ausgelösten Flutwelle nicht standhalten konnte. Vielmehr bedeutete dies eine Gefährdung der Versorgungssicherheit. Die leistungsstarken Kernkraftwerke waren nun mal so etwas wie die Ecksteine in der Architektur des deutschen Übertragungsnetzes. Man konnte sie nicht einfach aus dieser Architektur herausbrechen, ohne das ganze System zu destabilisieren. Es ging dabei keineswegs allein um die Stromerzeugung. Die plötzlich entfallende Wirkleistung von fünf Kernkraftwerken – zwei der sieben waren ohnehin abgeschaltet – ließ sich ja durch Stromimporte und das Hochfahren anderer Erzeugungskapazitäten noch kompensieren. Aber für die Blindleistung, die von diesen Kernkraftwerken an den Knotenpunkten des Netzes bereitgestellt wurde, gab es keinen entsprechenden Ersatz. Deshalb mußte zum Beispiel im abgeschalteten Kernkraftwerk Biblis A der Generator für sieben Millionen Euro so umgebaut werden, daß er weiterhin am Netz bleiben und Blindleistung einspeisen konnte (siehe Hintergrund, Februar 2015).

Regierung hielt sich vorerst alle Handlungsmöglichkeiten offen

Dieser willkürliche und sachlich unbegründete, aber bombastische Theaterdonner mit der sofortigen Abschaltung der ältesten Reaktoren dürfte zunächst keinen anderen Zweck verfolgt haben, als die Wahlergebnisse zugunsten von Union und FDP zu beeinflussen. Er war sichtlich darauf angelegt, der schwarz-gelben Regierung kurz vor den anstehenden drei Landtagswahlen den Rücken in Sachen Kernenergie freizuhalten. Das Moratorium war insofern eine Luftnummer, als es der Bundesregierung alle Handlungsmöglichkeiten offen ließ. Es wäre jedenfalls voreilig, darin eine Art Vorstufe und Ankündigung der später erfolgten Rücknahme der Laufzeiten-Verlängerung zu sehen. In Wirklichkeit verpflichtete es die Bundesregierung zu gar nichts. Die einzige Verpflichtung bestand darin, sämtliche deutschen Kernkraftwerke einer Überprüfung durch die Reaktorsicherheitskommission zu unterziehen. Aber auch das war eine Luftnummer, weil das Ergebnis so vorhersehbar war wie das Amen in der Kirche. Es war nicht damit zu rechnen, daß sich bei einem der 17 deutschen Kernkraftwerke – ob älteren oder neueren Datums – eine gravierende Beanstandung ergeben würde. Das bis 15. Juni befristete Moratorium enthielt deshalb ein doppeltes Verfallsdatum: Spätestens nach Vorliegen der Unbedenklichkeitsbescheinigungen hätten auch die ältesten Kernkraftwerke wieder ans Netz gehen und ihre verlängerten Laufzeiten voll ausschöpfen können.

78 Prozent der Wähler glaubten an ein wahltaktisches Manöver

Erst Ende März war es dann mit der wortradikalen Unverbindlichkeit vorbei. Die Landtagswahlen hatten gezeigt, daß auch die Wählerschaft dem atompolitischen Kurswechsel der Kanzlerin nicht über den Weg traute. In Sachsen-Anhalt flog am 20. März die Atompartei FDP aus dem Landtag, und der Stimmenanteil der CDU sank von 36,2 auf 32,5 Prozent. Noch viel schlimmer kam es eine Woche später in Baden-Württemberg, wo die CDU seit fast sechzig Jahren ununterbrochen regiert hatte: Sie verlor massenhaft Wähler an die Grünen, die zur zweitstärksten Partei wurden und nun mit der SPD als Koalitionspartner zum ersten Mal in einem Bundesland den Ministerpräsidenten stellen konnten. Die FDP büßte in ihrem vermeintlichen "Stammland" 5,4 Prozent ein und kam nur noch knapp über die Fünf-Prozent-Hürde hinweg. Dieses Debakel war in erster Linie auf die Unglaubwürdigkeit der schwarz-gelben Atompolitik zurückzuführen. Eine Umfrage von Infratest Dimap ergab, daß 78 Prozent der Wähler an ein wahltaktisches Manöver glaubten.

Rückkehr zur alten Regelung wurde mit scheinradikalen Zutaten aufgepeppt

Nun mussten Nägel mit Köpfen gemacht werden, um die Wähler zu beeindrucken. Zumindest sollte es so aussehen. Insofern war es konsequent, wenn die schwarz-gelbe Regierung nun beschloss, das unnötige, technisch grob fahrlässige und hinzu auch noch rechtswidrige Moratorium vom Ruch eines wahltaktisch bedingten Manövers zu befreien. Diese Flucht nach vorn konnte natürlich nicht gelingen, wenn an der Laufzeiten-Verlängerung festgehalten wurde. Sie sollte aber keinesfalls wie eine einfache Rückkehr zur alten Ausstiegsregelung aussehen. Deshalb enthielt der Gesetzentwurf, den die Koalition jetzt ausarbeiten ließ, noch zwei Zutaten: Zum einen waren das feste Schlußtermine, bis zu denen die bestehenden Kernkraftwerke die ihnen aufgrund der wiederhergestellten alten Reststrommengen-Regelung zustehenden Gigawattstunden abgearbeitet haben müssen. Zum anderen durften die sieben Kernkraftwerke, die unter das Moratorium fielen, sowie das Kernkraftwerk Krümmel nicht mehr ans Netz gehen, sondern mußten abgeschaltet bleiben. Bis Ende 2022 sollte so der Atomausstieg restlos vollzogen sein (110501).

Beide Zutaten klangen wieder ziemlich radikal, gerade so, als ob sich nun die Union beim Ausstieg aus der Kernenergie an die Spitze gesetzt hätte. Sie änderten aber grundsätzlich nichts am Mengengerüst der alten Ausstiegsregelung. Die Schlußtermine waren sichtlich so kalkuliert worden – oder sollten es zumindest sein – , daß sie den KKW-Betreibern bei einem konzernübergreifenden Ausgleich die Abarbeitung aller Reststrommengen erlaubt hätten (110601). Von den acht Reaktoren, die nicht mehr ans Netz gehen durften, hätten sieben sowieso bald stillgelegt werden müssen. Soweit sie noch über Reststrommengen verfügten, konnten diese wie bisher auf andere Kernkraftwerke übertragen werden. Rätselhaft blieb, weshalb auch der relativ neue Reaktor Krümmel der alten Moratoriums-Liste hinzugefügt worden war. Möglicherweise hatte es mit dem bislang unbestätigten Vorwurf zu tun, er sei für eine Häufung von Leukämie-Fällen in der Elbmarsch verantwortlich (siehe Link-Liste). Als Folge dieses blindwütigen gesetzgeberischen Kahlschlags hatte der Vattenfall-Konzern, der die beiden Kernkraftwerke Brunsbüttel und Krümmel betrieb, überhaupt keine Gelegenheit mehr, die noch unverbrauchten Reststrommengen von insgesamt knapp hunderttausend Gigawattstunden selber abzuarbeiten. Er war deshalb darauf angewiesen, dass ihm diese Mengen von den drei noch verbliebenen aktiven KKW-Betreibern abgekauft wurden. Das Gesetz enthielt aber keinerlei Regelungen, wie das vor sich gehen sollte und zu welchen Konditionen.

Keine der Oppositionsparteien erkannte die Tücken der Schlusstermine

Nur die Linke lehnte den Gesetzentwurf ab und begründete dies mit dem stichhaltigen Argument, dass er bestenfalls der alten Ausstiegsregelung entspreche. SPD und Grüne stimmten jedoch für ihn. Sie bedauerten lediglich, daß er den Ausstieg aus der Kernenergie noch nicht schnell genug vorantreibe. Vor allem bei den Grünen drängte eine starke Minderheit auf einen früheren Ausstieg, weshalb sich die Bundestagsfraktion auf einem eigens einberufenen Sonderparteitag ausdrücklich zur Zustimmung ermächtigen ließ (110601). Keine der drei Oppositionsparteien kritisierte aber den eigentlichen wunden Punkt des Gesetzes, der sich aus dem Konflikt zwischen der Reststrommengen-Regelung und den übergestülpten Abschaltterminen für die einzelnen Reaktoren ergab. Die Grünen-Fraktion glaubte sogar, in dieser Hinsicht die Regierungsparteien noch überbieten zu müssen, indem sie den Antrag stellte, die Liste der sofort stillzulegenden Kernkraftwerke um den Reaktor Grafenrheinfeld zu erweitern und die verbleibenden acht Reaktoren schon bis 15. April 2017 stillzulegen. Den Verfassern dieses Schaufenster-Antrags schien überhaupt nicht zu dämmern, dass das Vorziehen der Schlusstermine die Abarbeitung der Reststrommengen noch mehr behindern und immense Entschädigungs-Forderungen entstehen lassen würde. Dasselbe galt für die unsinnige Forderung, die Liste der Sofort-Abschaltungen um den Reaktor Grafenrheinfeld zu vermehren: Jede Abschaltung musste logischerweise die Kapazitäten zur Abarbeitung der Reststrommengen verringern und den dafür erforderlichen Zeitraum verlängern. Zugleich wurden damit den KKW-Betreibern hohe Entschädigungsansprüche zugeschanzt, sofern sich nicht alles im Rahmen des geordneten Ausstiegs aus der Kernenergie unterbringen ließ, wie er vor zehn Jahren von KKW-Betreibern und Bundesregierung vereinbart wurde.

Konzernübergreifender Ausgleich der Reststrommengen wurde unterstellt, aber nicht geregelt

Dasselbe Problem ergab sich schon beim Regierungsentwurf, dessen Abschalttermine unter stärkerer Berücksichtigung der Reststrom-Guthaben kalkuliert wurden. Sie wären im Idealfall eine überflüssige propagandistische Zutat gewesen, die bei jeder KKW-Abschaltung einen hübschen medialen Knalleffekt erzeugt hätte, ohne die komplette Abarbeitung der Elektrizitätsmengen zu behindern oder sonst irgendwelchen Schaden anzurichten. Die Urheber hatten es aber versäumt, den konzernübergreifenden Ausgleich, von dem sie offenbar ausgingen, auch im Gesetz zu verankern. So blieb ein großes Fragezeichen hinter den Reststrommengen für Brunsbüttel und Krümmel, die Vattenfall beanspruchen konnte und für die theoretisch noch genug Platz im Budget von E.ON und EnBW gewesen wäre. Außerdem war für RWE das Budget zu knapp bemessen, um die komplette Abarbeitung des großen Kontingents für Mülheim-Kärlich zu ermöglichen. Anscheinend ging man davon aus, dass die KKW-Betreiber sich schon irgendwie einigen und gegebenenfalls auf ein paar Gigawattstunden verzichten würden, falls ihre Vereinbarung mit der Bundesregierung aus dem Jahr 2001 mit dem geänderten Atomgesetz kollidieren sollte. Indessen gab es nicht einmal eine diesbezügliche Vorabklärung und Absprache mit den KKW-Betreibern, die ein unbefangener Leser des Gesetzestextes spontan vermuten musste – denn für so dämlich konnte er den Gesetzgeber eigentlich nicht halten.

Abschalttermine sind verfassungswidrig, wenn sie die Abarbeitung der Reststrommengen verhindern

Das war aber ein Irrtum. Der Gesetzgeber war tatsächlich so dämlich gewesen und empfing dafür am 6. Dezember 2016 die Quittung: Das Bundesverfassungsgericht gab einer Klage der KKW-Betreiber statt und verpflichtete die inzwischen regierende Große Koalition aus Union und SPD zur Änderung der 13. Atomgesetz-Novelle, weil die Schlußtermine für die sukzessive Abschaltung aller Reaktoren in § 7 Abs. 1a zu knapp bemessen seien, um die zugesicherten Reststrommengen restlos abarbeiten zu können. Ferner vermissten die Karlsruher Richter eine Regelung, welche die KKW-Betreiber für den Ankauf von Brennelementen oder ähnliche Investitionen entschädigt, die sie im Vertrauen auf die Dauerhaftigkeit der Laufzeiten-Verlängerung vorgenommen hätten, die ihnen die schwarz-gelbe Koalition erst kurz zuvor beschert hatte. In beiden Fällen werde das in Artikel 14 des Grundgesetzes verankerte Recht auf Eigentum verletzt. Das Atomgesetz müsse deshalb bis zum 30. Juni 2018 in den beanstandeten Punkten revidiert werden (161201, siehe auch Hintergrund, Dezember 2016).

Die Karlsruher Richter verbanden ihre Ohrfeige für den Gesetzgeber mit einem diskreten Hinweis, wie er am besten aus der Affäre herauskommen könne: Indem er die Abschalttermine einfach streicht. Die Abarbeitung der Reststrommengen wäre dann problemlos möglich gewesen und bei konzernübergreifendem Ausgleich sogar schneller vonstatten gegangen. Außerdem hätte sich zugleich der weitere verfassungswidrige Mangel des Gesetzes erledigt, der im Fehlen einer Entschädigungsregelung für nicht verstromte Elektrizitätsmengen bestand. Die Einführung einer solchen Regelung wäre zwar der Ordnung halber weiter nötig geblieben. Zur Anwendung gelangt wäre sie aber nie, weil es keine unverstromten Mengen gegeben hätte.

Schwarz-rote Koalition wollte unbedingt an Schlussterminen festhalten

Man hörte dann fast eineinhalb Jahre nichts davon, wie die schwarz-rote Koalition – die nach den Bundestagswahlen vom September 2017 wider Erwarten doch fortgesetzt wurde – , sich des Auftrages aus Karlsruhe entledigen würde. Vermutlich war eine entsprechende Gesetzesvorlage schon von der Vorgänger-Koalition ausgearbeitet worden. Das könnte erklären, weshalb der im Februar 2018 erneut zustande gekommene Koalitionsvertrag diesen heiklen Punkt überhaupt nicht erwähnte, obwohl die vom Bundesverfassungsgericht gesetzte Frist für die Gesetzesänderung schon in fünf Monaten ablief (180206). Anscheinend gab es keinen Abstimmungsbedarf mehr, weil ein entsprechendes Papier griffbereit in der Schublade lag. Als die Linke-Fraktion im Bundestag nach dem Stand der Dinge fragte, beschränkte sich die Regierung auf die Auskunft, dass sie die Umsetzung des Karlsruher Urteils prüfe und dass in jedem Fall an den Schlussterminen für die Abschaltung der einzelnen Kernkraftwerke festgehalten werde (180202).

Damit war jene grob fahrlässige Weichenstellung vorgezeichnet, die jetzt den gesetzgeberischen Zug erneut entgleisen ließ. Denn genau diese Schlusstermine hatte das Bundesverfassungsgericht als unvereinbar mit den gesetzlich verankerten Reststrommengen bezeichnet, auf deren Abarbeitung die KKW-Betreiber einen Anspruch hatten und noch haben. Dieser Anspruch besitzt rechtlich eine besondere Qualität, weil er auf jener Vereinbarung basiert, die im Juni 2000 zwischen der Bundesregierung und den vier Atomkonzernen zustande kam und ein Jahr später formell besiegelt wurde. Die Abschalttermine für die einzelnen Kernkraftwerke, mit denen die schwarz-gelbe Koalition ihre Rückkehr zur alten Reststrommengen-Regelung zu kaschieren versuchte, waren dagegen von Anfang an propagandistische Augenwischerei und bestenfalls überflüssig. Sie gehörten zu den scheinradikalen Zutaten, mit denen Union und FDP nach der Katastrophe von Fukushima vergessen machen wollten, dass sie soeben noch die Laufzeiten aller deutschen Kernkraftwerke um bis zu 14 Jahre verlängert hatten.

Über Einzelheiten des endgültigen Textes scheint es innerhalb der Koalition Differenzen gegeben zu haben. Jedenfalls beschloss das Kabinett erst am 23. Mai 2018 den Gesetzentwurf, der bis zum 30. Juni vom Parlament verabschiedet werden musste, um die von den Karlsruher Richtern gesetzte Frist einzuhalten. Am 1. Juni gelangte die Regierungsvorlage ins Parlament, wo die Fraktionen von Union und SPD einen gleichlautenden Antrag einbrachten, den sie am 28. Juni mit ihren Stimmen verabschiedeten, während der Regierungsentwurf für erledigt erklärt wurde (180601).

Nur der FDP fiel die Schlampigkeit des Gesetzentwurfs auf

Die Reparatur-Novelle wurde zwar von allen vier Oppositionsparteien abgelehnt, aber von FDP, Linken und Grünen inhaltlich mitgetragen. Das kam vor allem bei der ersten Lesung des Gesetzwurfs am 8. Juni zum Ausdruck. Auch in der zweiten und dritten Lesung am 28. Juni 2018 übten die demokratischen Oppositionsparteien keinerlei Kritik an den echten Schwachpunkten des Gesetzes. Vor allem stimmten sie mit der schwarz-roten Regierung darin überein, dass an den Abschaltterminen nicht gerüttelt werden dürfe und deshalb die ab 2023 anfallenden Entschädigungszahlungen an die KKW-Betreiber die einzig richtige Lösung seien. Stattdessen suchten sie mühsam nach Begründungen, weshalb sie das Gesetz doch ablehnen müssten. Am elegantesten zog sich dabei die FDP aus der Affäre: Die Abgeordnete Judith Skudelny, die als Berichterstatterin im zuständigen Ausschuss saß, verwies völlig zu Recht darauf, dass der Gesetzentwurf in mehreren Punkten "handwerklich nicht gut ist". Beispielsweise bleibe unklar, wie die Entschädigungen zu berechnen seien und in welchem Umfang die KKW-Betreiber kooperieren müssen. Hier eröffne sich ein "Einfallstor für neue Streitigkeiten". Ihre Partei werde deshalb nicht zustimmen – "nicht weil die Intention falsch ist, sondern weil der Weg, der gewählt worden ist, nicht korrekt ist".

Auch Linke und Grüne huldigten blind dem Fetisch Schlusstermine

Den Berichterstattern von Linken und Grünen war dagegen die Schlampigkeit des Gesetzentwurfs nicht einmal aufgefallen. Um die anfallenden Kosten für die Entschädigung der KKW-Betreiber zu rechtfertigen, erweckten sie den falschen Eindruck, als ob die Substanz des Atomausstiegs gefährdet sei, wenn auf die Abschalttermine verzichtet werde. Der Linke-Abgeordnete Hubertus Zdebel hielt es sogar für "alarmierend", dass in den Reihen der Regierungskoalition zeitweilig überhaupt daran gedacht worden sei, eine Revision der falsch gesetzten Schlusstermine in Erwägung zu ziehen. Damit sei nichts weniger als der ganze Atomkonsens in Frage gestellt worden. Dahinter habe der Wirtschaftsflügel der CDU gesteckt. Allerdings sei die vorgesehene Entschädigung zu großzügig bemessen. Deshalb fordere die Linke einen "Gemeinwohlabschlag in Höhe von 10 bis 15 Prozent" und werde den Gesetzentwurf ablehnen.

Die Grünen-Berichterstatterin Sylvia Kotting-Uhl wollte ebenfalls nicht an den Schlussterminen rütteln lassen und vermißte einen "Gemeinwohlabschlag" an den Entschädigungen, die sich zwangsläufig daraus ergeben. Außerdem sei es nicht gelungen, den Gesetzentwurf um eine Passage zu ergänzen, welche die Übertragung von Reststrommengen auf die Kernkraftwerke Brokdorf und Emsland untersagt. Der von diesen Reaktoren erzeugte Atomstrom verstopfe nämlich im Norden das Netz. Die dadurch bewirkte Abregelung von Windstrom gehe zu Lasten der "Steuerzahlerinnen und Steuerzahler", wie sie in politisch korrektem Gender-Neudeutsch, aber mit ziemlich schiefer Logik formulierte.

Lachender Dritter war die rechtsextremistische AfD

Die drei Oppositionsparteien FDP, Linke und Grüne unterstützten so uneingeschränkt das Festhalten an den unsinnigen Abschaltterminen, obwohl sie das Gesetz mit jeweils unterschiedlichen Begründungen ablehnten. Die beste Figur machte noch die FDP, indem sie auf den gesetzgeberischen Pfusch verwies, den später das Bundesverfassungsgericht rügte. Linke und Grüne wollten dagegen diesen Pfusch eher noch vergrößern. Das gilt vor allem für den ominösen "Gemeinwohlabschlag" zur Senkung der Kosten, die sie mit ihrem gemeinwohlschädlichen Festhalten an den Abschaltterminen überhaupt erst verursachten. Die von der Grünen-Sprecherin verlangte Revision der Reststrommengen-Regelung hätte einer Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht mit ziemlicher Sicherheit ebenfalls nicht standgehalten. Zumindest hätte das vorzeitige Ausscheiden von Brokdorf und Emsland aus der Abarbeitung der Reststrommengen die Entschädigungszahlungen zu Lasten der "Steuerzahlerinnen und Steuerzahler" noch stark vergrößert.

Am schlimmsten aber war: Alle fünf Fraktionen der demokratischen Parteien überließen es so der rechtsextremistischen AfD, auf die überaus fragwürdige "Kosten-Nutzen-Rechnung" hinzuweisen und sich als Anwalt des Steuerzahlers aufzuspielen. "Diese Kosten-Nutzen-Rechnung ist von den Initiatoren bewusst nicht unternommen worden", tönte der AfD-Abgeordnete Rainer Kraft. "Wir müssen daher konstatieren, dass von der Union und der SPD der Ideologie des Ausstieges aus der nukleartechnischen Stromerzeugung der Vorzug gegeben wird vor einer gewissenhaften Prüfung der volkswirtschaftlichen Konsequenzen Ihres Gesetzentwurfs, in diesem Falle zum Nachteil des Steuerzahlers mit möglichen Kosten im oberen dreistelligen Millionenbereich."

Mogelpackung wurde parteiübergreifend zum Garanten des Atomausstiegs verklärt

In der Tat blieben alle fünf demokratischen Fraktionen eine überzeugende Antwort schuldig, weshalb sie nicht endlich die Beseitigung der Abschalttermine verlangten, sondern geradezu fanatisch an ihnen festhielten, als ob andernfalls der Atomausstieg gefährdet sei. Auf diese Weise verteidigten und glorifizierten sie eine Mogelpackung, die von Anfang an den Atomausstieg verzögerte anstatt ihn zu beschleunigen. Inzwischen stand sogar fest, dass sich aus dieser Mogelpackung Entschädigungszahlungen an die KKW-Betreiber ergeben mussten. Das Bundesverfassungsgericht hatte deshalb schon in seinem Urteil vom Dezember 2016 deutlich gemacht, dass die Abschalttermine so überflüssig wie ein Kropf sind und ihre Streichung die einfachste Lösung wäre. Hätte der Bundestag diese Empfehlung beherzigt, wären keinerlei Entschädigungszahlungen entstanden und die drei letzten Reaktoren allenfalls ein paar Wochen länger gelaufen (siehe Hintergrund, Mai 2018).

Weshalb folgte der Bundestag dieser Empfehlung nicht? – Bei Union und FDP versteht man das ja noch einigermaßen, da sie die Erfinder dieser Mogelpackung waren. Bei SPD und Grünen schon weniger. Diese beiden Oppositionsparteien haben zwar 2011 ebenfalls für die schwarz-gelbe Novellierung des Atomgesetzes gestimmt. Vermutlich hatte das viel mit schlichter Ignoranz zu tun, denn die fatalen Konsequenzen der scheinradikalen Zutaten erschlossen sich nicht auf den ersten Blick. Zumindest den wenigen Experten, die sich in der Materie auskannten, dürfte aber klar gewesen sein, dass die Sofort-Stilllegung von acht Kernkraftwerken sowie die Hinzufügung von willkürlichen Abschaltterminen für die restlichen Reaktoren die Kraftwerkskapazitäten zur Abarbeitung der Reststrommengen mindern musste. Logischerweise ergab sich so keine Beschleunigung des Atomausstiegs, sondern dessen Verzögerung. Die Aufdeckung dieses frommen Betrugs war allerdings auch 2018 noch schwer zu vermitteln. Die Wahrheit ist nun mal kein Selbstläufer, sondern gelangt erst durch den teilweise sehr unsauberen Filter der Massenmedien in die Köpfe. Wer als Politiker diesen Schwindel angesprochen hätte, wäre deshalb ein hohes Risiko eingegangen, nicht als Aufklärer gefeiert zu werden, sondern als Häretiker wider die reine Lehre vom Atomausstieg auf dem Scheiterhaufen der öffentlichen Meinung verbrannt zu werden. Außerdem hätte es nun für die SPD bedeutet, sich mit den Koalitionspartnern CDU und CSU anzulegen. So kam zur Ignoranz noch eine gehörige Portion Opportunismus hinzu.

Am ehesten hätte man der Linken zugetraut, die Sache rational anzugehen, nachdem diese 2011 als einzige Fraktion gegen die schwarz-gelbe Novellierung des Atomgesetzes gestimmt und dies damit begründet hatte, dass sie allenfalls der alten Ausstiegsregelung entspreche. Daran hätte die Partei im Juni 2018 anknüpfen können, um nach sieben Jahren festzustellen, dass die Novellierung leider noch schlechter als die alte Ausstiegsregelung war. – Und um der Regierung maliziös zu gratulieren, dass sie zeitweilig doch in einem Anfall von Vernunft überlegt habe, den vom Bundesverfassungsgericht gewiesenen Weg zu beschreiten und die Abschalttermine ersatzlos zu streichen. Stattdessen fand der Linken-Sprecher Hubertus Zdebel solche angeblichen Überlegungen äußerst "alarmierend" und sah dadurch den ganzen Atomausstieg gefährdet. Er vermutete auch nicht die Autorität des Bundesverfassungsgerichts dahinter, sondern erkannte mit linksdogmatisch geschultem Scharfsinn, dass hier der Wirtschaftsflügel der Union seinen Einfluß geltend gemacht habe.

Es ist leider zu befürchten, dass dieses Trauerspiel nun weitergeht, nachdem das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber zum zweiten Mal zum Nachsitzen verdonnert hat.