November 2003

031102

ENERGIE-CHRONIK


Stromausfall in USA wurde durch grobe Verstöße gegen Sicherheitsstandards verursacht

Der Stromausfall, der am 14. August den Nordosten der USA und das südöstliche Kanada heimsuchte (030802), ist auf grobe Verletzungen der NERC-Standards für den Netzbetrieb zurückzuführen, wobei sowohl menschliche Fehlleistungen als auch unzulängliche technische Hilfsmittel eine Rolle spielten. Zu diesem Schluß gelangte im November die Expertenkommission, die im Auftrag der Regierungen der USA und Kanadas den großflächigen Netzzusammenbruch untersucht. Die Kommission hatte bereits im September einen ersten Bericht vorgelegt, der sich auf eine Chronologie der Ereignisse beschränkte (030907). Der nun veröffentlichte zweite Bericht befaßt sich dagegen mit den Ursachen. Der Rat für elektrische Funktionssicherheit (NERC) begrüßte den Bericht und wertete ihn als Bestätigung dafür, daß die US-Gesetzgebung den NERC-Standards für den Netzbetrieb, die bisher lediglich empfehlenden Charakter haben, zu strikter Verbindlichkeit verhelfen müsse.
Durch Berührung mit dem Baum rechts schaltete um 15.32 Uhr die 345-kV-Leitung Hanna - Juniper ab. Ein Baumschneidetrupp arbeitete gerade in der Nähe.

Die Hauptschuld am Stromausfall trifft das Unternehmen "First Energy" (FE), das den nördlichen Teil des Bundesstaats Ohio mit Strom versorgt und schon vorher durch massive Verstöße gegen Sicherheitsbestimmungen aufgefallen war (030907). First Energy hat die in seinem Regelbereich ("control area") aufgetretenen Störungen nicht rechtzeitig erkannt, keine angemessenen Gegenmaßnahmen ergriffen und die möglichen Auswirkungen auf andere Netze falsch beurteilt. Mitverantwortung trägt aber auch der unabhängigen Netzkoordinator MISO, der als "reliability coordinator" in größerem Rahmen für den Regelbereich von FE zuständig ist. Generell offenbart der Bericht einen Mangel an fachlicher Kompetenz, an geeigneten technischen Hilfsmitteln zur Netzdiagnose und an Abstimmung unter den Netzbetreibern. Darüber hinaus wurde im Vorfeld des Stromausfalls eine simple Wartungsarbeit wie das Beschneiden der Bäume entlang der Hochspannungsleitungen vernachlässigt, was die Ursache für den Ausfall der ersten drei 345-kV-Leitungen war.

Mit dem Stromausfall in Italien nur bedingt vergleichbar

Parallelen zum jüngsten Stromausfall in Italien (030901) gibt es insoweit, als auf eine zunächst normale bzw. noch beherrschbare Störung nicht rechtzeitig und nicht mit geeigneten Maßnahmen reagiert wurde, wobei mangelnde Abstimmung unter den Netzkoordinatoren eine wichtige Rolle spielte. In beiden Fällen kam es deshalb schließlich zu einer kaskadenartigen Abschaltung von Leitungen und Kraftwerken, bis der unkontrollierte Zusammenbruch der Stromversorgung an technische Grenzen stieß. Ansonsten lassen sich die Stromausfälle in den USA und Italien aber kaum vergleichen: Im Unterschied zu "First Energy" behielten die Schweizer, deren Leitungsstörungen der Ausgangspunkt des Stromausfalls in Italien waren, ihren Regelbereich durchaus unter Kontrolle. Aus schweizerischer Sicht hat der italienische Netzbetreiber versagt, dem die technischen Daten über die Leitungsstörungen an den Grenzen ebenfalls vorgelegen hätten und der es versäumt habe, das drohende Importdefizit durch Lastabwurf bzw. zusätzliche Erzeugung auszugleichen (031002).

NERC-Grundsätze mehrfach verletzt

Der Bericht der Expertenkommission wirft dem Unternehmen "First Energy" (FE) vier und dem Netzkoordinator MISO zwei grobe Verletzungen ("violations") der Grundsätze vor, die vom Rat für elektrische Funktionssicherheit (NERC) erlassen wurden. So habe FE schon nach dem Ausfall der ersten 345-kV-Leitung nicht die notwendigen Maßnahmen ergriffen, um binnen 30 Minuten die Netzstabilität wieder auf den gewohnten Stand zu bringen. Weiterhin habe es FE unterlassen, andere Netzbetreiber von einem sich anbahnenden Systemnotstand zu unterrichten. Weder die technischen Hilfsmittel zur Kontrolle und Diagnose des Netzzustandes noch der Ausbildungsstand des Personals hätten bei FE den Anforderungen entsprochen. Dem Netzkoordinator MISO wird vorgeworfen, er habe andere Netzkoordinatoren nicht über drohende Probleme unterrichtet und über zu wenig technische Möglichkeiten zur Beobachtung des Netzzustandes verfügt. Weitere Unzulänglichkeiten sieht der Bericht beim Unternehmen American Electric Power (AEP), dessen Versorgungsgebiet im Süden an das von FE anschließt, sowie beim Netzkoordinator PJM, der für den Regelbereich von AEP zuständig ist.

Kollaps von 345-kV-Leitungen blieb über eine halbe Stunde lang unbemerkt

Das Verhängnis begann um 15.05 Uhr mit dem Ausfall einer 345-kV-Leitung (Harding - Chamberlin), an die ein Baum zu nahe herangewachsen war. Um 15.32 Uhr folgte eine weitere 345-kV-Leitung (Hanna - Juniper), die wegen des Ausfalls der ersten stärker belastet wurde. Diese vermehrte Belastung hielt sich zwar im normalen Bereich (87,5 %), genügte aber, um ein stärkeres Durchhängen der Leitung und dadurch einen zweite Baumberührung auszulösen. Eine dritte 345-kV-Leitung (Star - South Canton) hatte zwischen 14.27 und 15.41 gleich dreimal Baumberührung und gab nach zweimaligem Wiedereinschalten endgültig den Dienst auf.

Auf den Bildschirmen bei "First Energy" wurde weder der Ausfall der ersten noch der zweiten Leitung bemerkt. Beim Netzbetreiber MISO dauerte es 36 Minuten, bis der Computer den Zusammenhang zwischen den drei Leitungsausfällen herstellte. Die Netzbetreiber AEP und PJM erkannten zwar die Überladung der dritten 345-kV-Leitung und versuchten gegenzusteuern, wußten aber nichts von den vorangegangenen Störungen, weshalb die Gegenmaßnahmen nicht rechtzeitig griffen und diese Leitung ebenfalls zusammenbrach.

Nach dem Verlust der dritten 345-kV-Leitung suchte sich der Strom seinen Weg über das 138-kV-Netz zum Verbrauchsschwerpunkt um Cleveland. Dies bewirkte zwischen 15.39 und 16.09 Uhr die Abschaltung von über einem Dutzend 138-kV-Leitungen wegen Überlastung. Dies führte wiederum zur Überlastung weiterer 345-kV-Leitungen, über die der Strom in Richtung Norden geflossen war.

Um 16.05 Uhr begann dann der kaskadenartig sich ausbreitende, nicht mehr aufhaltbare Zusammenbruch der Stromversorgung im Gebiet rund um die Großen Seen. Der Stromfluß suchte sich nun seinen Weg weit östlich und westlich der unterbrochenen Verbindungen herum zu den Verbrauchsschwerpunkten im Norden. Der Stromausfall, der sich zunächst auf die Region von Cleveland beschränkte, nahm innerhalb weniger Minuten gewaltige Ausmaße an. Um 16.13 Uhr lagen große Teile der nordöstlichen USA und des südöstlichen Kanada einschließlich der Stadt New York im Dunkeln (siehe grafische Darstellungen der einzelnen Sequenzen des Stromausfalls ).

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