November 2003

031101

ENERGIE-CHRONIK


Unkontrollierte Stromflüsse überfordern das Netz der Schweiz

Das Transportnetz der Schweiz wird von unkontrollierten Stromflüssen überfordert, die der liberalisierte europäische Strommarkt ausgelöst hat. Dies sei auch die eigentliche Ursache des jüngsten Stromausfalls in Italien gewesen, konstatiert eine Untersuchung, die das schweizerische Bundesamt für Energie (BFE) am 25. November veröffentlichte. Wörtlich heißt es in dem Bericht: "Die grundlegenden Ursachen des Stromausfalls vom 28. September 2003 sind der ungelöste Konflikt zwischen den Handelsinteressen der beteiligten Länder und Gesellschaften sowie die technischen Voraussetzungen des heute transnationalen Stromsystems. Normen und gesetzliche Rahmenbedingungen hinken hinter den wirtschaftlichen Realitäten her."

Die Studie entstand im Auftrag der Berner Regierung bzw. des eidgenössischen Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK). Die althergebrachte Funktion der Schweiz als "Stromdrehscheibe" zwischen Deutschland, Frankreich, Italien und Österreich wird nicht in Frage gestellt. Es wird aber gegenüber dem Ausland der Anspruch erhoben, bei allen Stromflüssen mitbestimmen zu können, die das Schweizer Transportnetz betreffen. Nach innen signalisiert der Bericht, daß der jetzige unbefriedigende Zustand auch auf die Ablehnung des geplanten Elektrizitätsmarktgesetzes bei einem Volksentscheid im September 2002 zurückzuführen ist (020904).

Weshalb schaltete Italien keine Pumpspeicherkraftwerke ab?

Während der vorangegangene Bericht der westeuropäischen Verbundorganisation UCTE (031002) die technischen Ursachen der Leitungsstörungen in der Schweiz und des daraus resultierenden Stromausfalls am 28. September untersuchte, beleuchtet die jetzige Studie des schweizerischen Bundesamtes diese Ursachen vor dem energiewirtschaftlichen Hintergrund der "Stromdrehscheibe" Schweiz. So wird festgestellt, daß die 380-kV-Leitung zum Lukmanier-Paß, die nach einem Erdschluß als erste ausfiel, bei Einhaltung des vorgesehenen "Referenzlastflusses" von 47 Prozent (Grenzstrom 2400 Ampère) durchaus wieder hätte eingeschaltet werden können. Die Leitung war aber zu 87 Prozent ausgelastet, weshalb nach ihrem Ausfall die Phasenwinkeldifferenz 42 anstatt 20 Grad betrug. Für ein erfolgreiches Wiedereinschalten der Leitung hätte die Phasenwinkeldifferenz nicht größer als 30 Grad sein dürfen. Das Bundesamt folgert daraus, daß alle nachfolgenden Ereignisse bis zum kompletten Stromausfall in Italien hätten vermieden werden können, wenn die Einspeisung der Importe nach Italien geographisch und mengenmäßig dem Referenzlastfluß entsprochen hätte.

Der UCTE-Bericht gibt nach Feststellung des Bundesamtes auch keine Antwort auf die Frage, weshalb die zum Zeitpunkt des Stromausfalls von Italien importierte Last um 300 MW über der angemeldeten Höhe lag. Er lasse ferner offen, weshalb die angeforderte Absenkung auf "Fahrplan"-Niveau erst nach zehn Minuten erfolgte und schon eine Minute später der Gesamtimport Italiens wieder anstieg. Ebensowenig gebe es bisher Klarheit darüber, weshalb der italienische Netzbetreiber nicht für eine schnelle Lastabsenkung durch Abschaltung von Pumpspeicherkraftwerken gesorgt habe, die zu dieser nächtlichen Zeit im Pumetrieb liefen. Dadurch - so läßt der Bericht anklingen - hätte der Erdschluß bei der zweiten 380-kV-Leitung zum San-Bernardino-Paß vermieden werden können, der durch die Überlastung bzw. das tiefere Durchhängen der Leiterseile bewirkt wurde.

Schweiz will auf Regulatoren-Ebene zusammenarbeiten

Seit Inkrafttreten der ersten EU-Richtlinie für den Strombinnenmarkt 1997 würden die Lastflüsse europaweit immer weniger den bekannten Flußmustern folgen, heißt es in der Studie. Bei den Stromflüssen durch die Schweiz in Richtung Italien ergäben sich chronische Abweichungen von den Referenzflüssen infolge von Entscheidungen der italienischen und französischen Netzbetreiber und deren Regulierungsbehörden, die Kriterien der Netzsicherheit zu wenig berücksichtigen. Es seien daher neue, verbindliche Regeln erforderlich, wie sie die neue EG-Verordnung über die Netzzugangsbedingungen für den grenzüberschreitenden Stromhandel (030601) vorsieht.

Das Bundesamt schlägt vor, daß die Eigentümer der schweizerischen Übertragungsleitungen möglichst bald auf freiwilliger Basis eine Schweizerische Netzgesellschaft als unabhängige Betreiberin des Übertragungsnetzes schaffen und sich so institutionell dem europäischen Binnenmarkt angleichen. Die Schweiz sei gewillt, bei der Ausgestaltung und Umsetzung der EG-Netzverordnung im neu gebildeten Gremium der europäischen Strom- und Gasmarktregulatoren aktiv mitzuarbeiten. Bei der Zuweisung von Übertragungskapazitäten nach Italien für 2004 und die folgenden Jahre wünschen die Schweizer Behörden ein Mitentscheidungsrecht zusammen mit den Regulatoren Italiens und Frankreichs. Die Schweiz brauche ihrerseits rasch einen starken Regulator, der als gleichberechtigter Partner zusammen mit den Instanzen der benachbarten Länder sowie der EU-Kommission den Markt regeln und kontrollieren kann. Ferner brauche man rasch ein Bundesgesetz über die umfassende Ordnung der Elektrizitätswirtschaft.

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