November 2015

151103

ENERGIE-CHRONIK


 

 

Das "Strommarktgesetz" ist ein Artikelgesetz, das insgesamt elf energiewirtschaftlich relevante Gesetze und Verordnungen ändert. Vor allem wird damit das Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) ein weiteres Mal novelliert und aufgebläht: Gegenüber der Neufassung aus dem Jahr 2005 wird der Umfang des EnWG nun dreimal so groß sein. Im Vergleich mit jener Fassung, die 1998 die Liberalisierung des Energiemarktes einleitete, enthält es sogar dreißigmal soviel Buchstaben bzw. Wörter und elfmal soviel Paragraphen.

"Strommarktgesetz" subventioniert Abbau von Kohle-Kapazitäten über Anstieg der Netzentgelte

Das Bundeskabinett verabschiedete am 4. November den "Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung des Strommarktes (Strommarktgesetz)". Wichtigster Punkt des zwölf Artikel umfassenden Gesetzes ist der Abbau der bestehenden Überkapazitäten durch die Stillegung von Kraftwerken mit einer Leistung von insgesamt 4,5 Gigawatt. Die Betreiber sollen dafür Vergütungen erhalten, die ihnen zumindest die Trennung von den ältesten und unrentabelsten Kohleblöcken schmackhaft machen. Diese Kraftwerke gehen dann vom Netz und scheiden aus der kommerziellen Stromerzeugung aus. Sie werden aber nicht endgültig stillgelegt, sondern stehen noch eine gewisse Zeit zur Verfügung, falls ein Mangel an Kraftwerken auftreten und die Versorgungssicherheit gefährden sollte. In diesem Falle würden sie dann auf Anforderung der Übertragungsnetzbetreiber reaktiviert und ausschließlich für netztechnische Zwecke eingesetzt. Es ist allerdings sehr unwahrscheinlich, daß dieser Fall eintritt, da die vor zwei Jahren eingeführte "Netzreserve" (130605) bereits auf die Abwehr solcher Notlagen zugeschnitten wurde. Die netztechnische Begründung dürfte deshalb lediglich ein Vorwand sein, um die Entschädigungen für die Kraftwerksbetreiber in die Netzkosten eingehen zu lassen und so auf die Stromverbraucher abzuwälzen (siehe Hintergrund).

Zahlungen an Braunkohle-Verstromer werden in Brüssel als Beitrag zum Klimaschutz präsentiert

Besonders unwahrscheinlich ist die Reaktivierung der acht Braunkohlekraftwerke mit einer Gesamtleistung von 2,7 Gigawatt, die in den Jahren 2016 bis 2019 sukzessive abgeschaltet und dann noch jeweils vier Jahre lang in "Sicherheitsbereitschaft" vorgehalten werden. Eine entsprechende Vereinbarung zwischen dem Bundeswirtschaftsministerium und den Braunkohleverstromern RWE, Vattenfall und Mibrag war kurz vor Veröffentlichung des Gesetzentwurfs zustandegekommen (151005). Sie wird nun in § 13g des novellierten Energiewirtschaftsgesetzes kodifiziert und als "Beitrag zur Erreichung der nationalen und europäischen Klimaschutzziele" bezeichnet. Anscheinend will man mit dieser Begründung vermeiden, daß die Regelung von der EU-Kommission als verbotene Beihilfe eingestuft und untersagt wird.

Vierjährige "Sicherheitsbereitschaft" soll Abwälzung der Kosten auf Netzentgelte rechtfertigen

Für den innenpolitischen Gebrauch hält die Bundesregierung aber weiterhin daran fest, daß mit der vierjährigen "Sicherheitsbereitschaft" der stillgelegten Braunkohle-Kraftwerke auch eine zusätzliche Absicherung der Stromversorgung "für länger andauernde und mit einer gewissen Vorlaufzeit vorhersehbare Extremsituationen" verbunden sei. Diese These dient offenbar dem Zweck, die an die Betreiber zu zahlenden Vergütungen als netztechnisch sinnvolle Maßnahme erscheinen zu lassen, damit sie über die Netzentelte auf die Stromrechnungen abgewälzt werden können. Von der EU-Kommission würde sie dagegen wohl kaum akzeptiert.

Wiederinbetriebnahme eines Braunkohle-Blocks würde elf Tage dauern

Als Beispiel für eine sinnvolle Reaktivierung der abschalteten Braunkohlekraftwerke nennt die Bundesregierung in ihrer Begründung des Gesetzentwurfs den Kühlwassermangel, wie er gelegentlich in heißen Sommermonaten auftritt und dann vor allem Wärmekraftwerke mit Frischwasserkühlung zur Drosselung ihrer Stromproduktion zwingt (030801). Ferner sei im Winter ein Engpaß bei der Stromversorgung vorstellbar, weil zugefrorene Flüsse die Brennstoffversorgung von Kraftwerken behindern. Beide Beispiele wirken aber ziemlich an den Haaren herbeigezogen, zumal sich in den elf Tagen, die zwischen einer entsprechenden "Vorwarnung" durch den zuständigen Übertragungsnetzbetreiber und der vollständigen Reaktivierung der Braunkohleblöcke vergehen, die jeweiligen Engpässe bereits erledigt haben dürften.

Der Begriff "Kapazitätsreserve" bleibt für schneller reaktivierbare Anlagen reserviert

Den Begriff "Kapazitätsreserve" – der für die acht Braunkohle-Blöcke ebenso verwendet werden könnte, hier aber mit "Sicherheitsbereitschaft" umschrieben wird – reserviert der Gesetzentwurf für eine weitere Gruppe von grundsätzlich abgeschalteten und dem Markt entzogenen Kraftwerken, die im Bedarfsfall schneller aktivierbar wären. Nach § 13e soll diese "Kapazitätsreserve" ab dem Winterhalbjahr 2017/2018 eine Leistung von 1,8 Gigawatt vorhalten und ab dem Winterhalbjahr 2019/2020 jeweils fünf Prozent der durchschnittlichen Jahreshöchstlast abdecken können. Sie wird im Rahmen eines wettbewerblichen Beschaffungsverfahrens organisiert, das die Übertragungsnetzbetreiber ab 2016 "in regelmäßigen Abständen" durchführen. Im Unterschied zu den acht Braunkohle-Blöcken, die nach vier Jahren "Sicherheitsbereitschaft" definitiv stillgelegt werden, können sich hier die eingebrachten Anlagen noch an weiteren einschlägigen Ausschreibungsrunden beteiligen. Eine Rückkehr zur kommerziellen Stromerzeugung ist aber ebenfalls ausgeschlossen.

Faktisch zielt die "Kapazitätsreserve" auf die Stillegung älterer Steinkohle-Blöcke

Der § 13e beschränkt die "Kapazitätsreserve" nicht auf bestimmte Kraftwerkstypen. Die gleichzeitig veröffentlichte "Kapazitätsreserveverordnung" ist aber sichtlich auf die Stillegung älterer Steinkohle-Blöcke zugeschnitten: Die Anlagen müssen in maximal 12 Stunden aus dem kalten Zustand angefahren werden können. Sie müssen ferner in der Lage sein, die vertraglich vereinbarte Einspeisung um bis zu fünfzig Prozent zu reduzieren und sie im Teillastbetrieb binnen 15 Minuten um 30 Prozent der vereinbarten Kapazität zu verändern.

Mehrkosten für Stromverbraucher sind angeblich geringfügig

Die Zahlungen an die Betreiber der acht Braunkohle-Blöcke beziffert die Bundesregierung mit rund 230 Millionen Euro jährlich bzw. mit 1,6 Milliarden Euro über die gesamte Laufzeit von sieben Jahren. Das Verfahren zur Berechnung der Vergütungen regelt eine Anlage, die dem Energiewirtschaftsgesetz hinzugefügt wird. Die Kosten der "Kapazitätsreserve" sind dagegen nur grob abschätzbar, da sie sich erst aus dem Ausschreibungsverfahren ergeben. Die Bundesregierung beziffert sie vorläufig mit 130 bis 260 Millionen Euro pro Jahr. Ihren Angaben zufolge wird die Umlegung beider Maßnahmen auf die Netzentgelte den Netto-Endverbraucherpreis um etwa 0,1 Cent pro Kilowattstunde erhöhen und sich damit nur geringfügig auswirken. Für den Durchschnittshaushalt mit einem jährlichen Stromverbrauch von 3500 Kilowattstunden wären das 3,50 Euro.

Falls sich die "Kapazitätsreserve" unter netztechnischen Gesichtspunkten als überdimensioniert oder sogar als überflüssig erweisen sollte, weil bereits die "Netzreserve" nach § 13d alle Risiken hinreichend abdeckt, wäre ihre Rückgängigmachung frühestens in drei Jahren möglich: Die Bundesnetzagentur überprüft und entscheidet bis zum 31. Oktober 2018 und dann mindestens alle zwei Jahre, ob eine Anpassung des Umfangs der Kapazitätsreserve erforderlich ist.

 

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